PIPER Reader Herbst 2024
- Keine Tags gefunden...
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
104<br />
THOMAS SCHLESSER<br />
LESEPROBE<br />
Verlegen setzte er hinzu, sie müssten sich auf das<br />
Schlimmste gefasst machen.<br />
Mona wurde auf einer Liege in eine schreckliche Maschine<br />
geschoben und musste alles brav über sich ergehen<br />
lassen, ohne sich zu rühren. Sie sollte die Kette<br />
mit ihrem Anhänger abnehmen, doch sie weigerte<br />
sich. Die winzige Muschel, die an einer dünnen Angelschnur<br />
hing, hatte ihrer Großmutter gehört und<br />
ihr immer Glück brachte. Sie hatte sie getragen, seit<br />
sie denken konnte, und ihr geliebter »Dadé« trug die<br />
gleiche Kette. Die beiden Glücksbringer verbanden<br />
sie miteinander, dachte sie, und sie wollte nicht, dass<br />
man sie ihrem Großvater entriss. Weil der Anhänger<br />
kein Metall enthielt, durfte sie ihn behalten. Dann<br />
wurde ihr Kopf, ihr von halblangen, kupferbraunen<br />
Haaren gerahmter Kopf mit dem runden Mund, in<br />
einen riesigen Kasten geschoben, in dem es hämmerte<br />
und brummte. Während der Viertelstunde, die<br />
diese Qual dauerte, sang Mona pausenlos vor sich<br />
hin, um diesem Sarg ein bisschen Zuversicht und Leben<br />
einzuflößen. Sie sang ein etwas harmloses Wiegenlied,<br />
das ihre Mutter früher beim Zubettgehen<br />
für sie gesummt hatte; sie sang einen Popsong, der<br />
im Supermarkt rauf und runter gespielt wurde und<br />
dessen Clip ihr mit all den Jungs und ihren gestylten<br />
Haaren gut gefiel; sie sang Ohrwürmer aus der Werbung,<br />
sang »Une souris verte« und dachte an den Tag,<br />
an dem sie den Text gebrüllt hatte, um ihren Vater<br />
rasend zu machen, allerdings ohne Erfolg.<br />
Die Ergebnisse des MRT waren da. Doktor Van Orst<br />
ließ Camille und Paul kommen und beeilte sich, sie<br />
zu beruhigen. Es sei nichts zu sehen. Absolut gar<br />
nichts. Auf den Schnittbildern zeige die Anatomie<br />
des Gehirns nur homogene Bereiche. Kein Tumor<br />
also. Die ganze Nacht lang wurden weitere, endlose<br />
Untersuchungen durchgeführt: von der Pupillenweite<br />
über das Blut, die Knochen, die Muskeln und<br />
Arterien bis ins Innenohr. Wieder nichts. Die Ruhe<br />
nach dem Sturm. Ja, hatte es überhaupt einen Sturm<br />
gegeben? (…)<br />
*<br />
»Hallo, Papa, ich bin’s.«<br />
Es war Mittag, als Camille noch immer taub vom<br />
Schreck beschloss, ihren Vater anzurufen. Henry<br />
Vuillemin weigerte sich, sein Handy zu benutzen,<br />
unerschütterlich antwortete er auf dem Festnetz mit<br />
einem trockenen »Ja«, das keinen Raum für Begeisterung<br />
ließ. Seine Tochter hasste dieses Ritual und<br />
trauerte jedes Mal den Zeiten nach, in denen ihre<br />
Mutter noch gelebt und den Hörer abgenommen<br />
hatte. Sie spulte die einzelnen Silben ab.<br />
»Papa, ich muss es dir sagen: Gestern Abend ist etwas<br />
Furchtbares passiert.«<br />
Sie erzählte alles der Reihe nach und versuchte dabei,<br />
ihre Gefühle im Griff zu behalten.<br />
»Und jetzt?«, fragte Henry mit einem Anflug von Ungeduld.<br />
Aber Camille hatte ihre Tränen beim Erzählen so<br />
unterdrückt, dass jetzt ein riesiger, erstickender<br />
Schluchzer aus ihrem Körper aufstieg: Sie war unfähig<br />
zu antworten.<br />
»Liebes, und jetzt?«, drängte ihr Vater.<br />
Das unerwartete »Liebes« gab ihr neue Energie, sie<br />
holte tief Luft und sagte: »Nichts! Vorerst nichts. Ich<br />
glaube, es geht ihr gut.«<br />
Henry stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung<br />
aus, legte den Kopf in den Nacken und betrachtete<br />
die fröhlichen Motive aus prallen Früchten, Laubwerk<br />
und Frühlingsblumen an seiner Stuckdecke.<br />
»Kann ich sie kurz sprechen?«<br />
Doch Mona hatte sich unter einer rotbraunen Decke<br />
in einen Wohnzimmersessel gekauert und war eingeschlafen.<br />
Ovid beschreibt die Phase, in der das Bewusstsein<br />
in den Schlaf fällt, als Betreten einer riesigen Grotte,<br />
wo, träge hingegossen, der Schlafgott haust. Er stellte<br />
sich eine Höhle vor, die für Phöbus, den Herr über<br />
die Sonne, unzugänglich ist. Mona hatte von ihrem<br />
Großvater gelernt, dass es für den Menschen keine<br />
kostbarere Reise gab als diesen regelmäßigen Eintritt<br />
in die geheimnisvollen, veränderlichen Regionen des<br />
Schlafs. Und so galt es, sie nicht zu vernachlässigen.<br />
*<br />
In den darauffolgenden Tagen leitete Doktor Van<br />
Orst im Hôtel-Dieu weitere Untersuchungen in die<br />
Wege. Sie ergaben noch immer keine besondere Auffälligkeit.<br />
Die Erklärung für Monas dreiundsechzigminütige<br />
Blindheit stand weiterhin aus, sodass der