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PIPER Reader Herbst 2024

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48<br />

A N NE MICH A ELS<br />

LESEPROBE<br />

LESEPROBE<br />

Am Escaut, Cambrai, Frankreich, 1917<br />

Wir wissen, das Leben ist endlich. Warum sollten wir<br />

glauben, der Tod währe ewig?<br />

*<br />

Der Schatten eines Vogels streifte den Hügel; den<br />

Vogel konnte er nicht sehen.<br />

*<br />

Manche Gedanken waren für ihn tröstlich:<br />

Alles ist durchdrungen von Verlangen; es ist vom<br />

Menschlichen nicht zu lösen.<br />

Dem Unbekannten können wir uns nur im Rahmen<br />

des Bekannten nähern.<br />

Lichtgeschwindigkeit ist kein Bezugspunkt für die<br />

Zeit.<br />

Die Vergangenheit ist als Gegenwart erfahrbar.<br />

Vielleicht ist das Wesentliche unseres Wissens<br />

nicht zu beweisen.<br />

Er hielt das Geheimnis, das allem innewohnte,<br />

nicht für formlos oder vage oder für eine Unstimmigkeit,<br />

sondern für das, was in uns Raum ließ für etwas<br />

klar Umrissenes. Er war nicht der Meinung, dass man<br />

diesen Raum mit Religion oder Wissenschaft ausfüllen<br />

musste, denn er sollte ganz und gar unberührt bleiben;<br />

wie Stille oder Sprachlosigkeit oder Dauer an sich.<br />

Vielleicht war der Tod eine Art Lagrange-Formalismus,<br />

vielleicht konnte er durch das Prinzip der stationären<br />

Wirkung definiert werden.<br />

Asymptotisch.<br />

Der Dunst glühte im Regen wie Einäscherungsfeuer.<br />

*<br />

Gut möglich, dass die Explosion ihm das Gehör geraubt<br />

hatte. Es waren keine Bäume vorhanden, um den<br />

Wind auszumachen, kein Wind, dachte er, nicht der<br />

geringste Hauch. Regnete es? John sah die Luft feucht<br />

glänzen, aber er spürte nichts auf seinem Gesicht.<br />

*<br />

Der Dunst löschte alles, womit er in Berührung kam.<br />

*<br />

Hinter dem Schleier seines Atems sah er etwas aufblitzen,<br />

einen Schrei aus Licht.<br />

*<br />

Es war bitterkalt.<br />

Irgendwo da draußen waren seine kostbaren Stiefel,<br />

seine Füße. Er müsste aufstehen und nach ihnen<br />

suchen.<br />

Wann hatte er das letzte Mal gegessen?<br />

Er war nicht hungrig.<br />

Durchsickernde Erinnerung.<br />

*<br />

*<br />

Schnee fiel, bei Nacht und bei Tag, und wieder in die<br />

Nacht hinein. Stille Straßen, unmöglich zu befahren.<br />

Also würden sie die Stadt zu Fuß durchqueren und<br />

einander in der Mitte treffen.<br />

Der Himmel war, selbst nachts um zehn, wie<br />

aus Porzellan, eine blasse, feste Masse, von der sich<br />

Schnee löste und herabfiel. Die Kälte war reinigend,<br />

ein Segen. Sie würden beide gleichzeitig aufbrechen<br />

und ihrer jeweiligen Route folgen, sie würden immer<br />

weitergehen, bis sie einander fanden.<br />

*<br />

In der Ferne, durch den heftig fallenden Schnee, erblickte<br />

John Teile von ihr – elliptisch, stroboskopisch<br />

-, Helenas dunkle Mütze, ihre Handschuhe. Schwer<br />

zu sagen, wie weit sie noch entfernt war. Er schüttelte<br />

den Schnee von seiner Mütze, damit sie ihn vielleicht

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