PIPER Reader Herbst 2024
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M AT THI A S LOHR E<br />
INTERVIEW<br />
sogar Nebensächlichem vielfach schillernde Bedeutungen<br />
zu verleihen. Als seine Frau Katia sich in<br />
einem Sanatorium in den Bergen erholte, besuchte er<br />
sie für drei Wochen. Die literarische Frucht war »Der<br />
Zauberberg«. Übrigens spielt auch darin der Teufel<br />
eine deutlich größere Rolle, als man lange meinte.<br />
Das hat der Autor und Literaturkritiker Michael<br />
Maar eindrucksvoll herausgearbeitet. Die Teufelsvision,<br />
die im »Doktor Faustus« ein ganzes Kapitel einnimmt,<br />
taucht ein halbes Jahrhundert zuvor, in aller<br />
Kürze, schon in den »Buddenbrooks« auf. Da fragt<br />
Christian seinen Bruder, den Konsul, ob der das auch<br />
kenne: »wenn du in der Dämmerung in dein Zimmer<br />
kommst, du auf einem Sofa einen Mann sitzen siehst,<br />
der dir zunickt und dabei überhaupt gar nicht vorhanden<br />
ist?!…«. Als Thomas Mann das schrieb, war er<br />
noch in Italien oder gerade erst zurückgekehrt. Heute<br />
bin ich sicher: An einem heißen Sommertag im Jahr<br />
1897 widerfuhr dem 22-Jährigen in Palestrina etwas,<br />
das ihn zutiefst veränderte. Und er schrieb, in wechselnden<br />
Kostümierungen, sein Leben lang davon.<br />
Ohne hier zu viel zu verraten: Deine Antwort<br />
auf die Frage, was Thomas Mann verwandelt<br />
haben mag, hat viel mit Liebe zu tun.<br />
Und zwar mit allen Facetten, die das Wort Liebe umfassen<br />
kann: Sehnsucht und Vertrautheit, Glückseligkeit<br />
und Lust, aber auch Angst, Demütigung, sogar<br />
Hass. Thomas Manns Figuren durchleiden diese<br />
Empfindungen immer wieder. Auch ihr Autor kannte<br />
sie genau. Es ist wohl kein Zufall, dass Mann die<br />
Tagebücher aus jener Zeit, in der er innerlich ungefestigt<br />
war, verbrannt hat. Von seinen frühen Nöten<br />
erzählte er der Welt verschlüsselt, durch seine Werke.<br />
Die andere Konstante ist sein schwieriges Verhältnis<br />
zum geliebten und gehassten Heinrich.<br />
Dein Roman ist auch die wunderbar anschauliche,<br />
einfühlsame, mitunter herzzerreißende<br />
Geschichte zweier Brüder. Wenn Heinrich und<br />
Thomas in Venedig, Rom, Palestrina oder Neapel<br />
der Liebe und dem künstlerischen Erfolg<br />
nachjagen, dann fühlen, leiden und jubeln wir<br />
mit ihnen. Wir sind ganz nah dran. Wie hast du<br />
das gemacht?<br />
Palestrina<br />
An einem Berghang südöstlich von Rom<br />
liegt ein Ort mit großer Geschichte. In<br />
der Antike strömten Gläubige zu einem<br />
riesigen, heute verfallenen Heiligtum der<br />
Göttin Fortuna. Bedingt durch die Nähe<br />
zur Hauptstadt und die geschützte Lage<br />
an einem Berghang, suchten weltliche<br />
und geistliche Herrscher in Kriegszeiten<br />
hier immer wieder Schutz. Heute ist das<br />
Städtchen in den Albaner Bergen vor<br />
allem als Geburtsort des Komponisten<br />
Giovanni Pierluigi da Palestrina bekannt.<br />
Hier finden Heinrich und Thomas Mann<br />
im Spätsommer 1897 Ruhe zum Arbeiten.<br />
In Heinrich Manns »Die kleine Stadt« gibt<br />
der Ort die Bühne ab für das vielstimmige<br />
Romangeschehen. Über das 1909 veröffentlichte<br />
Werk urteilte er selbst: »Es ist<br />
Wärme darin, die Wärme der Demokratie.«<br />
Auch in Thomas Manns großem Alterswerk,<br />
»Doktor Faustus«, spielt Palestrina<br />
eine zentrale Rolle. In der Herberge der<br />
Brüder lässt Mann seine Hauptfigur einen<br />
langen Dialog mit dem Teufel führen. Wo<br />
heute ein kleiner Platz mit dem Namen<br />
Heinrich Manns auf die Via Thomas Mann<br />
stößt, entstanden auch die Vorarbeiten<br />
der »Buddenbrooks«.