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PIPER Reader Herbst 2024

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88<br />

HENDRIK STREECK<br />

LESEPROBE<br />

Virus befasst, bitte nicht zu Kindern, Immunantworten,<br />

Hygienemaßnahmen, Übertragungswegen<br />

oder Krankheitsverlauf äußern. Denn dafür – und<br />

das muss man deutlich benennen - ist dieser Wissenschaftler<br />

dann eindeutig kein Experte. Was war<br />

mit Experten für Hepatitis, HIV oder Emerging<br />

Viruses, die vielleicht nicht zu genau dem Virustyp<br />

geforscht, aber dafür Impfstoffe untersucht oder epidemiologische<br />

Studien gemacht und dadurch einen<br />

anderen Blick auf die Pandemie hatten?<br />

Um eine Pandemie in ihrer ganzen Breite zu erfassen,<br />

braucht man die Kompetenz vieler unterschiedlicher<br />

Fachrichtungen, und so wurden auch die unterschiedlichsten<br />

Wissenschaften in die Debatte einbezogen.<br />

Dennoch entstand in der Öffentlichkeit der Eindruck,<br />

dass nur einige ausgewählte Wissenschaftler über<br />

die nötige Expertise verfügten, um sich zur Pandemie<br />

zu äußern. In der Art eines Tunnelblicks wurde<br />

zwischen »richtiger« und »falscher« Wissenschaft<br />

unterschieden und jeder Ausflug ins Land jenseits des<br />

Tellerrands erfolgte auch wieder nur in die Richtung,<br />

die kompatibel mit den eigenen Ansichten war. Dazu<br />

gehörte auch, dass bestimmte wissenschaftliche Studien<br />

vorzeitig gelobt wurden, während man andere,<br />

die vielleicht kritischer oder weniger konform waren,<br />

öffentlich in Frage stellte.<br />

Der Wissenschaftsjournalismus spielte in vielen<br />

Fällen ebenso keine ausgewogene Rolle. Anstatt<br />

Erkenntnisse und Diskussionen gegenüberzustellen,<br />

wurde oft vorschnell gewertet. Dies kumulierte<br />

in Begriffen wie »false balance« oder »PLURV«, ein<br />

Kompositum, um vermeintliche Fehlinformation<br />

zu erkennen (Pseudoexperten, logische Trugschlüsse,<br />

unerfüllbare Erwartungen, Rosinenpickerei und<br />

Verschwörungstheorien). Nur stellten gerade diese<br />

Begriffe in der Pandemie einen Trugschluss dar, geht<br />

es dabei doch eigentlich um gezielte Leugnung des<br />

wissenschaftlichen Konsenses in einem bestimmten<br />

Feld. Wir hatten aber keine wissenschaftlichen Erkenntnisse,<br />

und daher wurde mit Scheinargumenten<br />

versucht, die notwendige wissenschaftliche Debatte<br />

abzuwürgen. Denn es handelte sich nicht um Diskussionen,<br />

ob es das Virus überhaupt gibt oder nicht oder<br />

ob eine Pandemie stattfindet – das wäre in der Tat eine<br />

gezielte Leugnung eines wissenschaftlichen Konsenses<br />

gewesen -, sondern ging um eine in Nuancen andere<br />

Einschätzung des gleichen Sachverhalts, häufig<br />

gefärbt durch unterschiedliche Expertisen. Schließlich<br />

haben wir manchmal gemerkt, dass das, was die<br />

vermeintliche Mehrheitsmeinung ist, sich eben dann<br />

doch als falsch herausstellte.<br />

Die selektive Anerkennung von Forschungsergebnissen<br />

ist ein direkter Widerspruch zu den Grundprinzipien<br />

wissenschaftlicher Integrität und Objektivität.<br />

Gerade in der Dynamik eines Pandemiegeschehens<br />

spielen sie aber eine wichtige Rolle, und ihre Abwertung<br />

führt zu einer Verunsicherung der Bevölkerung.<br />

Dabei ist es in einer solchen Krise wichtig, Unsicherheiten<br />

zu reduzieren und das Vertrauen in die Wissenschaft<br />

sicherzustellen. Gleichzeitig müssen Zusammenhänge<br />

in ihrer Komplexität richtig dargestellt<br />

werden. Aber das wurde zu wenig gemacht – auch<br />

nicht von den Wissenschaftsjournalisten. Nehmen<br />

wir die Bilder überfüllter Krematorien, die mitten in<br />

der Coronakrise durch die Medien gingen und bei den<br />

Menschen Panik auslösten. Richtig war: Es gab viele<br />

und zu viele Coronatote. Doch dass in einigen Landstrichen<br />

wie zum Beispiel in Sachsen unsere Krematorien<br />

zeitweise an ihrer Belastungsgrenze angelangt<br />

waren, lag auch daran, dass nicht wie üblich ein Großteil<br />

der Leichen in polnische Krematorien gebracht<br />

werden konnte, da die Grenzen geschlossen waren.<br />

Auch das gehört zur Wahrheit dazu. Vermeintliche<br />

Gewissheiten bedürfen immer der Einordnung, und<br />

Wissenschaft muss auch unter Handlungsdruck diese<br />

differenzierte Sicht gewährleisten.<br />

Vor diesem Hintergrund sind auch Modellierungsstudien<br />

einzustufen, die am Computer mögliche<br />

Entwicklungen simulieren und teilweise eine große<br />

Klarheit suggerieren, obwohl sie weder die Komplexität<br />

einer Pandemie noch die Unsicherheiten in den<br />

Modellen ausreichend berücksichtigen können. Modelle<br />

sind eine gute Richtschnur, können aber keine<br />

präzisen Vorhersagen treffen. Man denke nur an den<br />

Wetterbericht. Mit im Mittel etwa 70 Prozent Treffsicherheit<br />

gelingt es den Meteorologen, das Wetter<br />

der nächsten Tage vorherzusagen. Aber wir alle kennen<br />

die Tage, für die uns doch am Abend zuvor Son-

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