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HENDRIK STREECK<br />
LESEPROBE<br />
Virus befasst, bitte nicht zu Kindern, Immunantworten,<br />
Hygienemaßnahmen, Übertragungswegen<br />
oder Krankheitsverlauf äußern. Denn dafür – und<br />
das muss man deutlich benennen - ist dieser Wissenschaftler<br />
dann eindeutig kein Experte. Was war<br />
mit Experten für Hepatitis, HIV oder Emerging<br />
Viruses, die vielleicht nicht zu genau dem Virustyp<br />
geforscht, aber dafür Impfstoffe untersucht oder epidemiologische<br />
Studien gemacht und dadurch einen<br />
anderen Blick auf die Pandemie hatten?<br />
Um eine Pandemie in ihrer ganzen Breite zu erfassen,<br />
braucht man die Kompetenz vieler unterschiedlicher<br />
Fachrichtungen, und so wurden auch die unterschiedlichsten<br />
Wissenschaften in die Debatte einbezogen.<br />
Dennoch entstand in der Öffentlichkeit der Eindruck,<br />
dass nur einige ausgewählte Wissenschaftler über<br />
die nötige Expertise verfügten, um sich zur Pandemie<br />
zu äußern. In der Art eines Tunnelblicks wurde<br />
zwischen »richtiger« und »falscher« Wissenschaft<br />
unterschieden und jeder Ausflug ins Land jenseits des<br />
Tellerrands erfolgte auch wieder nur in die Richtung,<br />
die kompatibel mit den eigenen Ansichten war. Dazu<br />
gehörte auch, dass bestimmte wissenschaftliche Studien<br />
vorzeitig gelobt wurden, während man andere,<br />
die vielleicht kritischer oder weniger konform waren,<br />
öffentlich in Frage stellte.<br />
Der Wissenschaftsjournalismus spielte in vielen<br />
Fällen ebenso keine ausgewogene Rolle. Anstatt<br />
Erkenntnisse und Diskussionen gegenüberzustellen,<br />
wurde oft vorschnell gewertet. Dies kumulierte<br />
in Begriffen wie »false balance« oder »PLURV«, ein<br />
Kompositum, um vermeintliche Fehlinformation<br />
zu erkennen (Pseudoexperten, logische Trugschlüsse,<br />
unerfüllbare Erwartungen, Rosinenpickerei und<br />
Verschwörungstheorien). Nur stellten gerade diese<br />
Begriffe in der Pandemie einen Trugschluss dar, geht<br />
es dabei doch eigentlich um gezielte Leugnung des<br />
wissenschaftlichen Konsenses in einem bestimmten<br />
Feld. Wir hatten aber keine wissenschaftlichen Erkenntnisse,<br />
und daher wurde mit Scheinargumenten<br />
versucht, die notwendige wissenschaftliche Debatte<br />
abzuwürgen. Denn es handelte sich nicht um Diskussionen,<br />
ob es das Virus überhaupt gibt oder nicht oder<br />
ob eine Pandemie stattfindet – das wäre in der Tat eine<br />
gezielte Leugnung eines wissenschaftlichen Konsenses<br />
gewesen -, sondern ging um eine in Nuancen andere<br />
Einschätzung des gleichen Sachverhalts, häufig<br />
gefärbt durch unterschiedliche Expertisen. Schließlich<br />
haben wir manchmal gemerkt, dass das, was die<br />
vermeintliche Mehrheitsmeinung ist, sich eben dann<br />
doch als falsch herausstellte.<br />
Die selektive Anerkennung von Forschungsergebnissen<br />
ist ein direkter Widerspruch zu den Grundprinzipien<br />
wissenschaftlicher Integrität und Objektivität.<br />
Gerade in der Dynamik eines Pandemiegeschehens<br />
spielen sie aber eine wichtige Rolle, und ihre Abwertung<br />
führt zu einer Verunsicherung der Bevölkerung.<br />
Dabei ist es in einer solchen Krise wichtig, Unsicherheiten<br />
zu reduzieren und das Vertrauen in die Wissenschaft<br />
sicherzustellen. Gleichzeitig müssen Zusammenhänge<br />
in ihrer Komplexität richtig dargestellt<br />
werden. Aber das wurde zu wenig gemacht – auch<br />
nicht von den Wissenschaftsjournalisten. Nehmen<br />
wir die Bilder überfüllter Krematorien, die mitten in<br />
der Coronakrise durch die Medien gingen und bei den<br />
Menschen Panik auslösten. Richtig war: Es gab viele<br />
und zu viele Coronatote. Doch dass in einigen Landstrichen<br />
wie zum Beispiel in Sachsen unsere Krematorien<br />
zeitweise an ihrer Belastungsgrenze angelangt<br />
waren, lag auch daran, dass nicht wie üblich ein Großteil<br />
der Leichen in polnische Krematorien gebracht<br />
werden konnte, da die Grenzen geschlossen waren.<br />
Auch das gehört zur Wahrheit dazu. Vermeintliche<br />
Gewissheiten bedürfen immer der Einordnung, und<br />
Wissenschaft muss auch unter Handlungsdruck diese<br />
differenzierte Sicht gewährleisten.<br />
Vor diesem Hintergrund sind auch Modellierungsstudien<br />
einzustufen, die am Computer mögliche<br />
Entwicklungen simulieren und teilweise eine große<br />
Klarheit suggerieren, obwohl sie weder die Komplexität<br />
einer Pandemie noch die Unsicherheiten in den<br />
Modellen ausreichend berücksichtigen können. Modelle<br />
sind eine gute Richtschnur, können aber keine<br />
präzisen Vorhersagen treffen. Man denke nur an den<br />
Wetterbericht. Mit im Mittel etwa 70 Prozent Treffsicherheit<br />
gelingt es den Meteorologen, das Wetter<br />
der nächsten Tage vorherzusagen. Aber wir alle kennen<br />
die Tage, für die uns doch am Abend zuvor Son-