PIPER Reader Herbst 2024
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103<br />
THOMAS SCHLESSER<br />
LESEPROBE<br />
erhoffte, dass sie den an ihren Pupillen klebenden<br />
Ruß wegwaschen würden. Kaum standen sie vor dem<br />
Krankenhaus, das sich direkt neben Notre-Dame auf<br />
der Île de la Cité befand, hörte sie unvermittelt zu<br />
schluchzen auf und erstarrte:<br />
»Mama, Papa, es kommt wieder!«<br />
Sie stand im kalten Wind auf der Straße und bewegte<br />
den Kopf vor und zurück, um ihrer zurückkehrenden<br />
Wahrnehmung auf die Sprünge zu helfen. Wie<br />
ein Rollo, das man hochzieht, hob sich der Schleier<br />
von ihren Augen. Endlich sah sie wieder Linien, die<br />
Konturen der Gesichter, die Umrisse der Gegenstände<br />
in ihrer Nähe, die Beschaffenheit der Gemäuer<br />
und sämtliche Farbabstufungen von hell bis dunkel.<br />
Das Mädchen erkannte die zarte Gestalt seiner<br />
Mutter wieder, ihren langen Schwanenhals und ihre<br />
schmächtigen Arme, dann auch die massigere Gestalt<br />
des Vaters. In der Ferne sah sie eine graue Taube auffliegen,<br />
was sie überglücklich machte. Die Blindheit<br />
hatte Mona gepackt und wieder losgelassen. Sie hatte<br />
sie durchbohrt, so wie eine Kugel die Haut durchlöchert<br />
und auf der anderen Seite des Körpers wieder<br />
austritt, was natürlich wehtat, aber dem Körper<br />
dennoch die Möglichkeit ließ zu heilen. Ein Wunder,<br />
dachte ihr Vater, der genau nachrechnete, wie lange<br />
der Anfall gedauert hatte: dreiundsechzig Minuten.<br />
In der Augenabteilung des Hôtel-Dieu wollte man die<br />
Kleine erst nach einer Reihe von Untersuchungen mit<br />
einer Diagnose und den entsprechenden Anordnungen<br />
wieder gehen lassen. Die Angst war aufgeschoben,<br />
aber nicht verflogen. Ein Pfleger schickte sie in einen<br />
Raum im ersten Stock, das Behandlungszimmer des<br />
vom Hausarzt informierten Kinderarztes. Doktor<br />
Van Orst hatte schütteres Haar, und sein weiter, blütenweißer<br />
Kittel hob sich leuchtend vom kränklichen<br />
Grün der Wände ab. Sein breites Lächeln, das fröhliche<br />
kleine Falten in sein Gesicht grub, machte ihn<br />
sympathisch. Und doch war er Zeuge zahlreicher<br />
Tragödien geworden. Er trat auf sie zu.<br />
»Wie alt bist du?«, fragte er mit einer vom Rauchen<br />
heiseren Stimme. (...)<br />
*<br />
«<br />
DOCH, MAN<br />
KONNTE AUCH<br />
›EINFACH SO‹<br />
ERBLINDEN, DAS<br />
WAR DER BESTE<br />
BEWEIS DAFÜR .<br />
UND HEUTE WAR<br />
DIESES MAN<br />
MONA, MIT<br />
IHREN ZEHN<br />
JAHREN UND<br />
IHREN TRÄNEN<br />
DER ANGST .<br />
Während ein Pfleger Mona durch das Labyrinth des<br />
Krankenhauses begleitete, um diverse Test durchzuführen,<br />
saß Doktor Van Orst in seinem riesigen Sessel<br />
und nannte Paul und Camille eine erste Diagnose:<br />
»TIA, oder transitorische ischämische Attacke.«<br />
Das bedeutete, dass die Organe vorübergehend nicht<br />
mehr durchblutet würden und man die Ursache für<br />
diese Störung finden müsse. Monas Fall, fuhr er fort,<br />
verunsichere ihn: Einerseits war die für ein Kind<br />
ihres Alters ausgesprochen seltene Attacke sehr heftig,<br />
weil beide Augen betroffen gewesen waren und er<br />
über eine Stunde gedauert hatte; andererseits hatte<br />
er ihre Bewegungs- und Sprachfähigkeit nicht beeinträchtigt.<br />
Das MRT würde sicher mehr ergeben.