3.3.1 Sieben Merkmale der Novelle - Theses
3.3.1 Sieben Merkmale der Novelle - Theses
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Es ist daher nicht möglich, eindeutig zu entscheiden, ob das, was er erzählt, tatsächlich<br />
vorgefallen ist.<br />
„Im Mondschein sah ich ein Weib, das hereinkam, ein wildes, garstiges Weib, die<br />
Haut glänzend wie eine Fischhaut […] ein Kind trug sie auf <strong>der</strong> Brust, ein an<strong>der</strong>es hielt<br />
sich mit beiden Händen […] fest […] und nun sah ich sie deutlich: es war das<br />
Seeweib!“ 345 Diese Beschreibung ist natürlich eine ganz an<strong>der</strong>e, als die traditionelle, die<br />
man bei H. C. An<strong>der</strong>sen o<strong>der</strong> bei Foucoult findet, bei denen ein weibliches Wasserwesen<br />
immer wun<strong>der</strong>schön und reizend aussieht. Eine Ähnlichkeit zwischen dem Seeweib und<br />
<strong>der</strong> kleinen Meerjungfrau von An<strong>der</strong>sen besteht trotzdem – sie sowie ihre Kin<strong>der</strong> geben<br />
nur lautlose Laute von sich: „[…] auch ihr Lachen hörte man nicht.“ 346 Umso mehr Lärm<br />
macht aber das Seeweib, das „mit Fäusten und Ellbogen auf die Tasten [des Klaviers]<br />
stampfte […] Sie schien den entsetzlichen Lärm nicht satt zu bekommen.“ 347<br />
Nach einiger Zeit kommt sogar seine Schwester und Frank ist entsetzt, als er sieht,<br />
wie „sie [sich] mit dem Halbgeschöpf wie mit ihresgleichen“ 348 unterhält. Sie hat nur eine<br />
Art Binsenmatte an und zittert vor Kälte. Frank ist wie gelähmt, als sie plötzlich zu ihm<br />
kommt und sich aufs Bett setzt. Ihre Art und emotionale Kälte erschrecken ihn, als sie<br />
ihm droht:<br />
Es hilft Dir doch nichts, du entgehst mir sowieso nicht, du kommst doch<br />
noch zu mir. Wenn du wüßtest, wie einsam es mir ist, wie es mich friert da<br />
unten […] du bist es besser gewöhnt […] Aber bilde dir nicht ein, daß du<br />
das Alles genießen wirst, während ich frieren muß in meinem nassen<br />
Abgrund. 349<br />
Sie scheint die Verkörperung seiner „inneren Stimme“ zu sein, die seine Gewissensbisse<br />
und Schuldgefühle laut äußert. Sie wirft ihm vor, was er sich selbst vorwirft. Er bittet sie<br />
ums Erbarmen und fragt sie: „Siehst du nicht, wie jammervoll ich lebe? Soll es nie gebüßt<br />
sein? Soll ich ganz zu Grunde gehen? – Zu Grunde, ja wohl! sagte sie […] Erbarmen?<br />
Hast du dich denn meiner erbarmt?“ 350 Genau das sind Franks Bedenken, die ständig aus<br />
dem Unterbewusstsein auftauchen, wenn er auf irgendeine Art und Weise seinem<br />
„Leiden“ ein Ende setzen will. Und genau das verursacht die Rückfälle, die es unmöglich<br />
345 Ebd. S. 226.<br />
346 Ebd. S. 226.<br />
347 Ebd. S. 227.<br />
348 Ebd. S. 228.<br />
349 Ebd. S. 229.<br />
350 Ebd. S. 229.<br />
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