Madam Guyon - Die geistlichen Stroeme - Gott ist die Liebe
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Wenn <strong>die</strong> gleichen Menschen einen der oben beschriebenen Seelsorger angetroffen<br />
und ihm bekannt hätten, daß sie seit mehreren Jahren das Gebet geübt haben, ohne in<br />
der Betrachtung und Vollkommenheit vorangekommen oder von der <strong>Liebe</strong> <strong>Gott</strong>es<br />
entzündet worden zu sein: sie hätten ohne Zweifel <strong>die</strong> Versicherung vernommen, daß<br />
solches ein Beweis sei, <strong>Gott</strong> habe sie nicht zu so hohen Dingen berufen.<br />
Arme, ohnmächtige Menschen! Ihr seid tauglich, den Willen <strong>Gott</strong>es zu tun, und wenn<br />
ihr treu seid, werdet ihr bessere Beter, als jene großen Vernünftler, <strong>die</strong> mehr Stu<strong>die</strong>n<br />
über das Gebet betreiben, als zu beten.<br />
Ich sage sogar, <strong>die</strong> armen verkannten Menschen, <strong>die</strong> so Ohnmächtig und untüchtig<br />
zum Gebet zu sein scheinen, sind gerade am empfänglichsten für <strong>die</strong> Beschauung,<br />
wenn sie nicht ermüden, an <strong>die</strong> Tür zu klopfen und in Geduld und Demut zu warten,<br />
bis sie ihnen geöffnet wird. Jene großen Vernünftler, jene starken<br />
Verstandesmenschen, <strong>die</strong> sich kaum einen Augenblick in der Stille vor <strong>Gott</strong> zu<br />
erhalten vermögen, deren Reichtum so sehr bewundert wird, deren Redegewandheit<br />
nie versiegt <strong>die</strong> so perfekt Rechenschaft zu geben wissen von ihrem Gebet und jedem<br />
seiner Bestandteile, <strong>die</strong> jeden beliebigen Stoff scharfsinnig betrachten können, <strong>die</strong> sich<br />
nach bestimmter Regel und Ordnung und mit Methode ge<strong>ist</strong>lich auferbauen:<br />
<strong>die</strong> werden nicht weiter gelangen, so zufrieden sie auch mit sich und mit ihren Lichtern<br />
sind. Nach zehn- und zwanzigjähriger Übung werden sie noch immer auf demselben<br />
Punkt stehen. Ob man uns am Ende auch noch nach Schulmethode lehren will, wie<br />
man <strong>die</strong> <strong>Liebe</strong> <strong>Gott</strong>es lieben müsse? Bedarf es eine Vorschrift, wenn es gilt, ein armes<br />
Geschöpf zu lieben? Sind nicht gerade hier <strong>die</strong> Einfältigsten <strong>die</strong> Besten? Gerade so <strong>ist</strong><br />
es mit der göttlichen <strong>Liebe</strong>, freilich in einem höheren Sinn.<br />
Darum, du Seelsorger: wenn dich ein Mensch, der im Gebet unerfahren <strong>ist</strong>, mitteilt,<br />
ihn <strong>die</strong>se hohe Übung zu lehren, lehre zu lieben! Lehre ihn, sich blindlings in <strong>die</strong> Arme<br />
der <strong>Liebe</strong> zu stürzen, und bald wird er Me<strong>ist</strong>er der allererhabensten Wissenschaft sein.<br />
Auch wenn er von Natur keine Anlage zu lieben hat: laß ihn lieben so gut er es kann.<br />
Laß ihn in Geduld warten bis<br />
<strong>die</strong> <strong>Liebe</strong> selbst ihn das lieben lehrt nach ihrer Weise, nicht nach der deinen. Für <strong>die</strong><br />
Anfänger sind kurze, einfache, <strong>die</strong> Vernunft wenig, aber das Herz um so mehr<br />
ansprechende Inhalte <strong>die</strong> geeignetsten. <strong>Die</strong> solide Wahrheit, das Licht der Heiligen<br />
Schrift und <strong>die</strong> Stunden des Gebetes, in denen sie verarbeitet werden, bringt ihnen<br />
ebensoviel ein wie <strong>die</strong> Betrachtung. Aber <strong>die</strong> Gebetszeiten sollen ausgenutzt werden,<br />
recht viel zu lieben.