Madam Guyon - Die geistlichen Stroeme - Gott ist die Liebe
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Jetzt soll er auch <strong>die</strong>se verlieren. Natürlich nur, was den Gebrauch anbelangt, denn in<br />
der Wirklichkeit prägen sie sich nur umso tiefer in <strong>die</strong> Seele ein. Er verliert <strong>die</strong> Tugend<br />
als Tugend, aber nur, um sie in Jesus Chr<strong>ist</strong>us wiederzufinden. <strong>Die</strong>ser vormals so<br />
demütige Mensch sieht sich auf einmal stolz und übermütig. <strong>Die</strong>ser so geduldige<br />
Mensch, der sich auch das Härteste gefallen ließ, von dem man auch das Äußerste<br />
verlangen konnte, wird gewahr, daß er jetzt gar nichts vertragen kann. Er kann <strong>die</strong><br />
Zügel seiner Sinne nicht mehr halten. Er gerät in Zorn und in Wut. Er überwirft sich<br />
mit den Geschöpfen. Er könnte mit der Braut des Hohen Liedes klagen: „Daß <strong>die</strong><br />
Hüter, <strong>die</strong> in der Stadt umgehen, ihn gefunden und ihn wundgeschlagen haben“.<br />
Es <strong>ist</strong> zu bemerken, daß <strong>die</strong>jenigen, <strong>die</strong> sich in <strong>die</strong>sem Stand befinden, keineswegs<br />
einen freiwilligen Fehltritt begehen. <strong>Gott</strong> läßt sie zwar gewöhnlich einen solchen<br />
Abgrund des Verderbens in ihrem Inneren erkennen, daß sie mit Hiob sprechen<br />
möchten: „Ach, daß du mich in <strong>die</strong> Hölle verbergen würdest, bis daß das Ungestüm<br />
seines Zornes sich legte“. Aber <strong>Gott</strong> läßt nicht zu, daß <strong>die</strong>ser Mensch in eine wirkliche<br />
Sünde fällt. Und das <strong>ist</strong> so wahr, daß, wenn er sich auch als das verworfenste aller<br />
Geschöpfe vorkommt, er trotzdem, wenn er beichten soll, keinen einzigen Fehltritt<br />
anzuführen weiß, sondern sich damit begnügen muß zu klagen, daß er voller Jammer<br />
sei und in seinen Neigungen und Trieben einen beständigen Kampf spüre. Es <strong>die</strong>nt zu<br />
<strong>Gott</strong>es Verherrlichung, daß er dem Menschen zwar <strong>die</strong> Verdorbenheit seines Grundes<br />
offenbart, ihn aber nicht in irgendeine wirkliche Sünde fallen läßt.<br />
Was seinem Schmerz eine so schneidende Schärfe gibt, <strong>ist</strong> <strong>die</strong>s, daß er sich gleichsam<br />
erdrückt fühlt von <strong>Gott</strong>es Reinheit, und daß dem Menschen wegen des<br />
unermesslichen Abstandes zwischen der Reinheit das aller vollkommensten Wesens<br />
und der Unreinheit das sündigen alten Adams, <strong>die</strong> kleinsten Sonnenstäubchen der<br />
eigenen Unvollkommenheit als ungeheure Sünden erscheinen. Er sieht, daß er ganz<br />
klar und lauter aus den Händen <strong>Gott</strong>es hervorgegangen war, daß er aber nicht nur<br />
durch <strong>die</strong> Sünde Adams getrübt worden <strong>ist</strong>, sondern er sich auch selber unzähliger<br />
wirklicher Vergehungen schuldig gemacht hat. Darüber empfindet er eine<br />
unaussprechliche Beschämung. Wenn aber <strong>die</strong> Menschen ihn verachten, so geschieht<br />
das nicht, als ob sie irgendeine namhafte Unart oder Untugend an ihm<br />
wahrgenommen hatten. Es geschieht nur, weil sie ihn nicht mehr tun sehen, was er<br />
sonst mit so großer Treue und Wärme zu tun pflegte. Sie glauben daher, er sei aus<br />
seinem Stande herausgefallen, wobei sie sich dann freilich sehr irren.<br />
<strong>Die</strong>ser Mensch begeht also nicht <strong>die</strong> Fehler, <strong>die</strong> er zu begehen wähnt. Er <strong>ist</strong> vielmehr<br />
niemals in seinem Grunde lauterer gewesen. Da <strong>die</strong> Sinne und <strong>die</strong> Kräfte aber jeder<br />
Stütze beraubt sind, so schweifen sie umher wie in der Irre. Der Lauf zum Ziel wird<br />
dem Menschen in <strong>die</strong>sem Stand dermaßen beschleunigt und beflügelt, daß nicht zu