Madam Guyon - Die geistlichen Stroeme - Gott ist die Liebe
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0, wenn der Mensch genug Glauben hat, um sich niemals mehr selbst zu betrachten:<br />
welchen Fortschritt würde er machen! Seine eigenen Blicke sind wie gewisse kleine<br />
Sträucher: Gebüsche, <strong>die</strong> in das Meer reichen, und <strong>die</strong> verhindern, daß man hineinfällt,<br />
solange ihre Stütze dauert. Wenn <strong>die</strong> Zweige sehr schwach sind, halten sie den Blick<br />
des Körpers auf, aber nicht <strong>die</strong> Seele, höchstens für Augenblicke: wenn aber durch<br />
merkbaren Unglauben der Mensch sich willentlich und für längere Zeit selbst<br />
betrachtet, wird er für ebensolange Zeit aufgehalten, wie sein Blick dauert, und sein<br />
Verlust wird sehr groß sein.<br />
<strong>Die</strong> Fehler <strong>die</strong>ses Standes sind flüchtige Emotionen und Rückblicke auf sich selbst, <strong>die</strong><br />
den Menschen allerdings hemmen und stören, wenn auch nur auf Momente. Auch<br />
sind es leichte Wallungen der Leidenschaftlichkeit, <strong>die</strong> im gleichen Augenblick<br />
geboren werden und sterben, gleichsam leichte Windstöße, <strong>die</strong> über das stille Meer<br />
hinübergleiten und seine Oberfläche spielend kräuseln. Jedoch lassen <strong>die</strong> Windstöße<br />
ab, und das Meer steht wieder spiegelglatt und ruhig. Der Mensch <strong>ist</strong> „vom Tode zum<br />
Leben hindurchgedrungen“. Sobald er nur aus seinem Grabe hervorgegangen <strong>ist</strong>,<br />
findet er sich, ohne es zu wissen, wie es damit zugegangen <strong>ist</strong> und ohne im geringsten<br />
daran gedacht zu haben, mit allen Neigungen und Regungen Jesu Chr<strong>ist</strong>i bekleidet.<br />
<strong>Die</strong>s nicht infolge selbst bewusster Vorsätze oder dazu angestellter Übungen, sondern<br />
vermöge seines Standes (1. Joh. 3, 9).<br />
Er findet doch alles bei sich vor, sooft und sobald er dessen nur bedarf, ohne daß er<br />
daran denkt. Es <strong>ist</strong> so, als ob jemand einen verborgenen Schatz besitzt, den er<br />
vergessen hat und ihn nun zufällig findet, gerade in dem Augenblick, wo er ihn braucht<br />
(Luk. 12, 11-12).<br />
Der Mensch <strong>ist</strong> erstaunt, daß er in seinem Inneren, ohne über <strong>die</strong> Stände Jesu Chr<strong>ist</strong>i<br />
und über ihre Neigungen und über ihre Tugenden nachgedacht zu haben, <strong>die</strong> bei ihm<br />
„im zehnten, zwanzigsten oder dreißigsten Jahre hervorgeleuchtet haben“ möchten,<br />
solche alle in seinem Inneren ausgeprägt sind, kraft seines Standes, in den Jesus<br />
Chr<strong>ist</strong>us ihn versetzt hat (Hes. 36, Vers 27).<br />
Der Mensch bemerkt, daß fast alles sich in ihm gestaltet, ganz von selbst und mit<br />
solcher Leichtigkeit, als sei es von jeher natürlich gewesen.<br />
Er „verkündet <strong>die</strong> Tugenden Jesu Chr<strong>ist</strong>i“. Das äußert sich bereits schon gleich am<br />
Anfang, wenn der Mensch den Weg des dunklen Glaubens betritt. Obgleich er<br />
während seines ganzen Weges keine differenzierten Ansichten der Einzelheiten von<br />
<strong>Gott</strong>es Natur gehabt hat, so spürt er trotzdem ein Verlangen, derselben gleichgestaltet<br />
zu werden. Er sehnt sich nach der Kleinheit, nach der Bedürfnislosigkeit, nach dem<br />
Kreuz. Er will „<strong>die</strong> Gemeinschaft seiner Leiden erkennen lernen“ (Phil. 3, 10).