Madam Guyon - Die geistlichen Stroeme - Gott ist die Liebe
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genommen wurde, war nur das überflüssige. Jetzt aber sollst du entbehren, was ohne<br />
Verletzung des Anstandes nicht entbehrt werden kann (Joh. 19, 23).<br />
Deshalb wehrt sich auch der arme Geängstigte <strong>die</strong>ser neuen Entblößung aus allen<br />
Kräften. Er macht dem Bräutigam Vorhaltungen, daß ihm das selbst zur Schmach<br />
gereichen werde. „Wehe mir“, spricht er, „ich habe alle deine Gaben und Geschenke<br />
hingeben müssen. Ich mußte alle Pfänder deiner <strong>Liebe</strong> zurückgeben. Ich habe <strong>die</strong><br />
Freude der <strong>Liebe</strong> selbst verloren. Nur <strong>die</strong> Tugend war mir geblieben und <strong>die</strong> Freude<br />
und <strong>die</strong> Leichtigkeit, sie zu üben.<br />
Ich übte mich in den <strong>Liebe</strong>swerken. Ich kümmerte mich um den Nächsten. Ich habe<br />
fleißig gebetet, obwohl du mir deine spürbaren Gnaden entzogen hattest. Ich kann<br />
mich nicht entschließen, <strong>die</strong>s alles aufzugeben. Ich war wenigstens noch meinem<br />
Stande entsprechend gekleidet. Man betrachtete mich in der Welt immer noch als<br />
deine Braut. Wenn ich nun auch noch meiner Kleider beraubt werde, so wird man<br />
mich als eine Verworfene ansehen, und ich werde dir selbst zum Vorwurf gereichen ...“.<br />
Trotzdem, Unglücklicher, wirst du dich auch in <strong>die</strong>sen Verlust fügen müssen. Immer<br />
noch kennst du dich selbst viel zu wenig. Eben deine Kleider <strong>die</strong>nen dazu, deine wahre<br />
Gestalt dir selbst zu verhüllen. Auch wähnst du, sie seien dein Eigentum, und du<br />
könntest ganz nach eigenem Belieben dich ihrer be<strong>die</strong>nen. Darum laß nur auch <strong>die</strong>se<br />
fahren. ...<br />
Aber ich hatte sie mir doch mit so großer Anstrengung erworben. Du selbst hattest sie<br />
mir zum Lohn der Arbeiten gegeben, <strong>die</strong> ich für dich bestanden hatte ... du mußt sie<br />
doch hergeben!<br />
So wird nun der Mensch entblättert und seiner Verhüllungen beraubt, der einen nach<br />
der anderen. Alles wird jetzt wieder weggenommen, woran er vormals seine Freude<br />
gefunden hatte: <strong>die</strong> Almosen, <strong>die</strong> Krankenpflege, <strong>die</strong> Bußübungen, der <strong>Gott</strong>es<strong>die</strong>nst, ja<br />
das Gebet selber. Und er empfindet nicht nur Widerwillen und Ekel dagegen, er spürt<br />
sogar eine völlige Untüchtigkeit, ein unüberwindliches Unvermögen, <strong>die</strong>se Dinge zu<br />
tun. Alle seine eigene Kraft hat ihn verlassen, <strong>die</strong> Kraft des Leibes, <strong>die</strong> Kraft der Seele.<br />
Ihm bleibt nur noch <strong>die</strong> Erinnerung an <strong>die</strong> frühere. Ihm bleibt eine wehmütige<br />
Erinnerung an seine verlorenen Tugenden. Aber auch <strong>die</strong> wird ihm genommen. Es war<br />
<strong>die</strong> letzte Hülle, womit er sich bedeckte.<br />
Der Mensch wagt es nicht mehr, sich zu beklagen. Allmählich sieht er ein, daß ihm<br />
auch <strong>die</strong>smal wiederfährt, was ihm gebührt. Er begreift, daß ihm gar nichts gehört,<br />
sondern alles dem Bräutigam. Er fängt an, ein Mißtrauen gegen sich selbst zu schöpfen.<br />
Er verliert allmählich jene tief verwurzelte Vorliebe für sich selbst.