Madam Guyon - Die geistlichen Stroeme - Gott ist die Liebe
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sich in dem Maße verdoppeln, wie der Mensch schwächer wird, sie zu ertragen. Er<br />
wappnet sich mit Geduld. Er weint. Er stöhnt. Er trauert. Er beklagt sich gegen den<br />
himmlischen Bräutigam, daß er ihn so ganz verlassen hat. Aber seine Klagen werden<br />
nicht gehört. Alles gereicht ihm zum Sterben und zum Tod, fühlt sich zu allem Guten<br />
zu träge und zu verdrossen. Zu dem Bösen aber wird er hingezogen, durch einen<br />
inneren Zug, der ihm Grauen macht vor sich selbst.<br />
Er gleicht der Taube Noahs, der, als sie nichts auf der Erde gefunden hatte, wo sie sich<br />
niederlassen konnte, nichts blieb, als zur Arche zurückzukehren. Sie flattert um das<br />
Fenster der Arche. Sie gurrt und ächzt, und hört nicht auf zu gurren und zu ächzen, bis<br />
der Erzvater Noah sich ihrer erbarmt, das Fenster öffnet und sie wieder in seinem<br />
Kasten aufnimmt. 0 <strong>die</strong>se wunderbaren Wege <strong>Gott</strong>es, voller Erbarmen und <strong>Liebe</strong>! Nur<br />
deshalb wird der Mensch von <strong>Gott</strong> so geführt und nicht anders, daß er mit umso<br />
größerer Schnelligkeit laufen lerne. <strong>Gott</strong> verbirgt sich, auf daß man ihn umso<br />
sehnlicher suche. Er flieht, daβ man ihn um so eifriger verfolge. Er läßt den Menschen<br />
anscheinend fallen, damit er <strong>die</strong> Freude habe, ihm aufzuhelfen und ihn zu stützen. Ihr<br />
kräftigen und starken Menschen, <strong>die</strong> ihr nie <strong>die</strong>se Zurückhaltung des göttlichen<br />
Geliebten, <strong>die</strong>se Eifersucht <strong>Gott</strong>es, <strong>die</strong>sen verborgenen <strong>Gott</strong> erfahren habt, <strong>die</strong> dem<br />
Menschen, der sie bestanden hat, so heilsam dünken, aber im Augenblick der Not so<br />
schrecklich erscheinen. Ihr, <strong>die</strong> ihr von der Gegenwart <strong>Gott</strong>es und seinem<br />
ununterbrochenen Besitz berauscht bliebt oder höchstens nur auf so kurze Zeit seiner<br />
beraubt worden seid, daß ihr durch ein langes und schmerzliches Ausbleiben <strong>die</strong><br />
Glückseligkeit seiner Gegenwart nie recht schätzen gelernt habt, ihr habt nie eure<br />
eigene Schwäche recht erfahren, noch wie sehr ihr <strong>Gott</strong>eshilfe dauernd nötig habt. Was<br />
aber jene so hart geprüfte Menschen betrifft, sie fangen an, sich nicht mehr auf sich<br />
selbst zu Stützen, sie Stützen sich einzig und allein nur noch auf <strong>Gott</strong>. Je herber ihnen<br />
<strong>die</strong> Strenge des Freundes erschien, desto wünschenswerter erscheint ihnen seine<br />
Gnade.<br />
<strong>Die</strong>sen Menschen fehlen oft infolge der Abschwächung aller ihrer Kräfte und weil ihre<br />
Sinne keine Stützen mehr haben. Viele Fehltritte beschämen sie dermaßen, daß sie<br />
sich gern vor ihrem göttlichen Freund verbergen würden, wenn sie es könnten. Gerade<br />
während solcher Augenblicke der tiefsten Beschämung pflegt es zu geschehen, daß der<br />
göttliche Geliebte ihnen für einen Augenblick sein Antlitz zeigt. Er streckt ihnen das<br />
Zepter seiner Gnade entgegen, wie es einst Ahasverus der Esther tat, damit sie nicht<br />
sterbe. Aber <strong>die</strong>ser <strong>Liebe</strong>sbeweis verursacht nur, daß sich <strong>die</strong> Beschämung vermehrt.<br />
Man möchte vor Schmerz vergehen, daß man dem Geliebten habe Mißfallen können.<br />
Ein andermal lässt <strong>Gott</strong> den Menschen durch seine Strenge empfinden, wie mehr ihn<br />
seine Untreue betrübt. Gewiss, wenn es möglich wäre, daß Menschen in Staub<br />
verfielen, hier würde es geschehen. Was möchten sie nicht tun, um das Unrecht wieder