Madam Guyon - Die geistlichen Stroeme - Gott ist die Liebe
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Zweiter Teil<br />
DER STROM IM MEER — DAS MENSCHEN LEBEN IN GOTT<br />
(Ein späterer Zusatz der Verfasserin)<br />
I. Freiheit<br />
Der Strom, nachdem er in das Meer geflossen <strong>ist</strong>, hat keine Fesseln mehr. Kein<br />
Flußbett engt ihn ein, keine Ufer zwingen ihn. Er breitet sich nach allen Seiten hin aus<br />
und teilt <strong>die</strong> Fülle und <strong>die</strong> Freiheit des unermeßlichen Meeres selbst.<br />
Nicht eher, als bis der Mensch in <strong>Gott</strong> eingegangen <strong>ist</strong>, wird ihm <strong>die</strong> wahrhaftige<br />
Freiheit gegeben. Nicht jene angebliche Freiheit, <strong>die</strong> sich los glaubt von jeder Übung<br />
der Pflicht, und <strong>die</strong> eher eine Beraubung der Freiheit genannt zu werden ver<strong>die</strong>nt.<br />
Nein! <strong>Die</strong> Freiheit, deren der mit Chr<strong>ist</strong>us wieder auferstandene Mensch teilhaftig<br />
wird, <strong>ist</strong> anderer Art. Sie <strong>ist</strong> <strong>die</strong> Freiheit <strong>Gott</strong>es selbst. Sie hat Fähigkeit und<br />
Leichtigkeit, alles und jedes zu tun, was in der Ordnung <strong>Gott</strong>es und gemäß seines<br />
Standes <strong>ist</strong>. Und er tut es umso williger, je länger er <strong>die</strong> wahre Freiheit noch nicht<br />
hatte, und je schwerer ihm das gefallen war.<br />
Ich begreife es nicht, daß Menschen sich für auferstanden und vergöttlicht halten, <strong>die</strong><br />
ihr ganzes Leben hindurch im Unvermögen und im Verlust aller Dinge beharren. <strong>Die</strong><br />
Handlungen eines Auferstandenen sind Handlungen des Lebens, und wenn der<br />
Mensch nach seiner vermeintlichen Auferstehung trotzdem noch ohne Leben bleibt,<br />
so sage ich, daß er tot und begraben sei, aber nicht auferstanden. Der wirklich<br />
Auferstandene verrichtet <strong>die</strong>selben Handlungen, <strong>die</strong> er früher vor allen seinen<br />
Verlusten verrichtet hat. Und er verrichtet sie ohne Schwierigkeit, denn er tut, was<br />
<strong>Gott</strong> tut, in <strong>Gott</strong>. Hat nicht Lazarus nach seiner Wiedererweckung alle<br />
Lebenshandlungen verrichtet wie früher? Hat nicht Chr<strong>ist</strong>us nach seiner Auferstehung<br />
sogar essen und mit den Menschen Umgang pflegen wollen? Was von ihnen gegolten<br />
hat, gilt noch heute. Darum wiederhole, daß <strong>die</strong>jenigen, <strong>die</strong> wähnen, sie seien in <strong>Gott</strong>,<br />
und trotzdem sich noch in Zwang fühlen und nicht frei leben können, noch keineswegs<br />
auferstanden sind. Wären sie es wirklich, so wäre alles ihnen hundertfältig<br />
wiedergegeben (2. Kor. 5, 17. Matth. 19, 29).<br />
Hiob, ein Spiegel des ganzen <strong>ge<strong>ist</strong>lichen</strong> Lebens, kann uns <strong>die</strong>s lehren. Ich sehe, wie<br />
<strong>Gott</strong> ihn nach und nach von allem entblöst, was er ihm so reichlich gegeben hatte. Er<br />
nimmt ihm zuerst seine Güter, das sind <strong>die</strong> <strong>ge<strong>ist</strong>lichen</strong> Gaben und Gnaden, darauf <strong>die</strong><br />
Kinder, das sind <strong>die</strong> guten Werke, <strong>die</strong> wir geübt haben, alsdann <strong>die</strong> Gesundheit, das <strong>ist</strong><br />
der Empfindbahre Besitz der natürlichen und <strong>ge<strong>ist</strong>lichen</strong> Tugenden. Danach läßt er