Madam Guyon - Die geistlichen Stroeme - Gott ist die Liebe
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Parfüm gefüllt sind. Durch den wunderbaren Geruch angelockt, hört man nicht auf, sie<br />
zu öffnen und ihre Düfte verströmen zu lassen. Ehe man sich versieht, sind sie dann<br />
auch erschöpft, und man bedauert zu spät, daß man nicht sparsamer mit dem<br />
kostbaren Inhalt umgegangen <strong>ist</strong>.<br />
Auf <strong>die</strong>ser Stufe nimmt man leicht das eine für das andere, d.h. <strong>die</strong> Mitte für das Ende:<br />
und da <strong>die</strong> Dauer <strong>die</strong>ses Standes für manche Menschen sich sehr hinauszögert,<br />
manche auch ihr Leben lang nicht über ihn hinauskommen, so nimmt man <strong>die</strong>sen<br />
Stand am Ende für den Stand der Vollendung. Selbst <strong>die</strong> Seelsorger, wenn sie nicht alle<br />
Stände und Wege durchschritten haben, glauben leicht, daß <strong>die</strong>ser Mensch in der<br />
Vollendung steht, wovon er jedoch noch unendlich weit entfernt <strong>ist</strong>. Sie glauben es<br />
umso leichter, als sie den Menschen alle nur erdenklichen Tugenden üben sehen mit<br />
einer wunderbaren Stärke.<br />
Er überwindet sich selbst ohne Mühe. Er bringt Opfer dar über Opfer. Es wird ihm<br />
nichts zu schwer, weil „<strong>die</strong> <strong>Liebe</strong> stark <strong>ist</strong> wie der Tod“. <strong>Die</strong> Tugenden scheinen einem<br />
solchen Menschen mühelos gekommen zu sein. Auch achtet er ihrer nicht und denkt<br />
me<strong>ist</strong> nicht einmal daran, daß er sie besitzt. Er <strong>ist</strong> in einer unermesslichen allgemeinen<br />
<strong>Liebe</strong> ganz und gar befangen, ohne um das Warum und Weshalb des <strong>Liebe</strong>ns sich zu<br />
kümmern. Fragt man ihn, was er den ganzen langen Tag mache, wird er sagen, daß er<br />
liebe. Fragt man, was denn der Grund und <strong>die</strong> Ursache sei, warum er liebt, weiß er es<br />
nicht und erkennt es nicht. Alles was er weiß <strong>ist</strong>, daß er liebt und daß er vor Verlangen<br />
brennt, für das zu leiden, was er liebt.<br />
Fragt man: <strong>ist</strong> es denn vielleicht das Anschauen des leidenden Geliebten, das ihn<br />
treibt, auch für ihn leiden zu wollen? „Ach nein“, wird er sprechen, „das alles kam mir<br />
niemals in den Sinn“. „Ist es denn etwa das Verlangen, dir <strong>die</strong> Tugenden aneignen zu<br />
wollen, <strong>die</strong> du an ihm wahrnimmst“? „Ich kann nicht sagen, daß es <strong>die</strong>s wäre“. „Ist es<br />
etwa <strong>die</strong> Schönheit des Herrn, <strong>die</strong> dir dein Herz entführt“? „Mein Blick ruht nicht auf<br />
<strong>die</strong>ser Schönheit“. „Und worauf denn“? „Was weiß ichs? Was fragst du mich? <strong>Die</strong>s eine<br />
weiß ich nur und fühle ich, daß ich im Herzen eine tiefe Wunde trage, daß ich in<br />
meiner Unruhe ruhe“.<br />
Der Mensch glaubt nun, alles gewonnen und alles vollendet zu haben. Obgleich er<br />
noch voller Fehler <strong>ist</strong>, wie oben beschrieben, und darüber hinaus noch voller anderer<br />
und gefährlicher Gebrechen, <strong>die</strong> erst fühlbar werden auf der nächsten Stufe, (wenn sie<br />
auch dann noch schwer zu beschreiben sind), so beruhigt er sich doch in der<br />
Vollkommenheit, <strong>die</strong> er glaubt errungen zu haben. Indem er bei den Mitteln<br />
stehenbleibt, <strong>die</strong> er für den Endzweck nimmt, würde er für immer daran kleben<br />
bleiben, wenn nicht <strong>Gott</strong> <strong>die</strong>sen Strom, der bis dahin wie ein ruhiger See auf der höhe<br />
das Gebirges gewesen <strong>ist</strong>, den Abhang des Berges finden ließe, von wo er sofort