Winter/zima 2007/2008 - Pavelhaus
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Über die ,Fruchtbarkeit‘ von Grenzen<br />
Über die ,Fruchtbarkeit‘ von Grenzen<br />
,Orten‘, nach menschlichen Orten, eine wichtige<br />
Aufgabe der ,Weltbeschreibung‘. Es ergeben<br />
sich in der Tat völlig neue Phänomene in<br />
der Entwicklung in der heutigen Welt. Das<br />
Wort ,Globalisierung‘ sei stellvertretend für<br />
viele Entwicklungen genannt. In der Atemlosigkeit<br />
einer Zeit, in einer neuen ,Weltgesellschaft‘,<br />
worin der Einzelne, der neue ,flexible<br />
Mensch‘, damit beschäftigt ist, ja, sein muss,<br />
den Anschluss an den nächsten Quantensprung<br />
im Bereich der Neuen Medien nicht zu<br />
versäumen, stellt sich die immer dringendere<br />
Frage nach den wirklichen Lebensorten. Dafür<br />
gab es einst in der Poesie immer die alten<br />
Worte, die von der Dunkelheit der Erde,<br />
dem Himmel, den fernen Sternen, von fremden<br />
Landschaften, von der Weite des Meeres,<br />
vom Du erzählten. Dies sind nur vordergründig<br />
reale Orte, in Wahrheit jedoch ideelle<br />
Landschaften, die vom Inneren des Einzelnen<br />
„sprechen“. Es sind Nachrichten von der<br />
Topographie der Literatur, der Poesie, jener anderen<br />
Hemisphäre mit den anderen Orten des<br />
menschlichen Erfahrens.<br />
M. Jaroschka<br />
Was sind die Orte des Menschen, Orte der<br />
Kunst? Ein Ort ist gekennzeichnet durch seine<br />
Identität, durch seine Beziehung zu seinem<br />
Umraum und durch seine Geschichte. Es besteht<br />
kein Zweifel, die Orte, in denen Menschen<br />
noch zu Hause sein konnten, lösen sich<br />
immer mehr auf begleitet von einer Tendenz<br />
der Entwurzelung. Die Schlüsselkompetenz<br />
in der modernen Kulturtechnik, die Kommunikationsfähigkeit,<br />
ist gefragt, wer nicht<br />
mittut, fällt zurück. Die alten sozialen, kulturellen,<br />
emotionalen Orte werden von Nicht-<br />
Orten, wie sie der französische Soziologe Marc<br />
Augé nennt, in einem riesigen ökonomischtechnischen<br />
Universum ersetzt, das nur noch<br />
,Passanten‘, Durchreisende, aber keine ,Heimat‘<br />
mehr kennt. Dies hat aber mit der hier<br />
versuchten Annäherung an die ins Auge gefasste<br />
Weghaftigkeit nichts zu tun. Wer hat<br />
nicht die Gleichheit von Flugplätzen, Autobahnen,<br />
Stadteinfahrten in aller Welt erlebt?<br />
Es sind Räume von Nicht-Orten, die austauschbar<br />
sind, sie schaffen Einsamkeit und<br />
als wichtigstes Charakteristikum: Sie haben<br />
nur Gegenwart. Anthropologische Orte dagegen<br />
schaffen organische, soziale Räume, die<br />
überschaubar sind, in denen die Sprache noch<br />
,zu Hause‘ ist und die ihre eigene Geschichte<br />
haben.<br />
Kehren wir aus den philosophischen Betrachtungen<br />
zum Phänomen Grenze, die die Komplexität<br />
dieses Begriffes offengelegt haben, zurück<br />
in eine vielleicht realere Welt, wie z. B.<br />
zu den möglichen Grenzen des alten Kontinentes<br />
Europa. Es geht also darum, konkret<br />
auch an ein Europa als einen merkwürdigen<br />
Kulturkontinent zu denken. Tatsache ist, Europa<br />
besteht politisch aus rund 40 Ländern, aus<br />
rund 120 Sprachen, aus vielen Minderheiten,<br />
aus vielen kaum überschaubaren Traditionen<br />
in ganz spezifischen Regionen usw. In dieser<br />
vorfindlichen Vielfalt Europas war und ist<br />
das Überschreiten von Grenzen in den Wissen-<br />
schaften, in der Philosophie, in der Kunst, in<br />
der Ökonomie immer eine Notwendigkeit des<br />
Überlebens. Europa ist, nach Dževad Karahasan,<br />
jener ständige Ort der Spannung, wo zwei<br />
Identitäten sich treffen, die das „dramatische<br />
dialogische Wesen der Grenze“ erkennen, wo<br />
ein ,Ich‘, als Identität, nur seine ,eigene Seite‘<br />
der Grenze erkennen kann, die ,andere Seite‘,<br />
das fremde Subjekt als Grenze, als fremde<br />
Identität, jedoch nicht, aber in dieser ,Begegnung‘<br />
das Andere, das Fremde erfahren kann.<br />
Wiederum: Es ,zeigt‘ sich. Das ,Ich‘ kann<br />
sich dem fremden Subjekt zuwenden und dabei<br />
eine „Ich-Du“ –Beziehung durch einen<br />
grenzüberschreitenden Dialog aufbauen. Darin<br />
liegt vielleicht die kulturelle Fruchtbarkeit<br />
dieses kleinen Kontinents Europa...<br />
In allen hier angeführten Bereichen ist, wenn<br />
man genau hinsieht, das Phänomen Grenze<br />
auffindbar jedoch in einer seltsamen Verknüpfung<br />
mit der Vielfalt des Fremden, des Anderen.<br />
Auch der jüdische Denker Emmanuel Levinas<br />
entwarf, ähnlich wie Dževad Karahasan, in<br />
seiner Kritik an der bisherigen Ethik, wo das<br />
Ich immer im Mittelpunkt stand, eine neue<br />
Ethik des Anderen, des Fremden; er spricht in<br />
diesem Zusammenhang vom unauflösbaren<br />
Geheimnis der Subjektivität. „Der Pluralismus<br />
der Gesellschaft ist nur möglich im Ausgang<br />
von diesem Geheimnis.“ Das Geheimnis<br />
Subjektivität bedingt nach Levinas die reine<br />
Transzendenz des Anderen. Er stellt die nicht<br />
verstehbare Subjektivität des Anderen in ein<br />
,Jenseits‘, das anders ist als alles vordergründige<br />
Sein. Das Geheimnis Subjektivität kann<br />
man nicht entdecken oder verstehen. Es ,zeigt‘<br />
sich… im Erfahren.<br />
Es lässt im Rahmen dieser Betrachtungen aufhorchen,<br />
wenn Dževad Karahasan, im muslimischen<br />
Kulturkreis beheimatet, in seinen<br />
philosophischen und literarischen Grenzgängen<br />
ganz konkret die politische und kulturelle<br />
Geschichte Europas aufgreift, von einem<br />
Wunder Europa spricht (dies auch begründet)<br />
und eine künstlerische Antwort zum Phänomen<br />
Grenze gibt. So schreibt er: „Europa denken.<br />
Ein Wunder denken (denn Europa ist<br />
zweifellos in vielerlei Hinsicht ein Wunder).<br />
Ein Wunder der Aggressivität: Eine Halbinsel<br />
des asiatischen Kontinents okkupierte praktisch<br />
den kompletten Rest der Welt, wie es<br />
noch immer am Anfang unseres Jahrhunderts<br />
war. Ein Wunder der Produktivität: Es ist fast<br />
unwahrscheinlich, dass in einer so kurzen<br />
Zeit und auf einem so kleinen Raum all das<br />
entstehen konnte, was in Europa in den letzten<br />
Jahrhunderten entstand angefangen von<br />
den neuen Waffengattungen bis hin zu neuen<br />
Biersorten, von totalitären politischen Theorien<br />
bis zur Apotheose des Individualismus…<br />
Europa ist nämlich, zu all dem, was es ist, auch<br />
ein sehr dichtes Netz von Grenzen. Wenn ich<br />
das sage, denke ich natürlich nicht an Staatsgrenzen.<br />
Ich denke an kulturelle Grenzen…<br />
Ist Europa ein Wunder, weil das Netz kultureller<br />
Grenzen in ihm so dicht ist, weil man<br />
auf Schritt und Tritt neue Sprachen hört und<br />
neue Typen von Familiennamen antrifft, neue<br />
Religionen kennen lernt und ein neues Verständnis<br />
von Fluch, Beleidigung oder Lob entdeckt?<br />
Ich weiß es nicht, aber ich bin tief davon<br />
überzeugt, dass darin wenigstens ein Teil<br />
der Ursache für das Wunder Europa liegt.“<br />
Die hier erörterten Gedanken wollten einfach<br />
über die „Fruchtbarkeit“ von Grenzen<br />
berichten…<br />
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