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Barbara Hoffmann Zwischen Integration, Kooperation und Vernichtung

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Gegen diese Pläne wehrten sich die HeimbewohnerInnen <strong>und</strong> richteten im Juni 1938 einen<br />

diesbezüglichen Hilferuf an den Generalbevollmächtigten für das Fürsorgewesen:<br />

166<br />

„IN UNSERER HÖCHSTEN NOT RUFEN 13. BL. MÄDCHEN UM HILFE UND<br />

RETTUNG! MAN WILL UNS AUS UNSEREM HEIM TREIBEN, IN WELCHEM<br />

DIE MEISTEN SCHON ÜBER 30 JAHRE IHR LEBEN ZUBRINGEN. AM 8. JUNI<br />

ÜBERNIMMT DIE GEMEINDE MELK UNSER HEIM, […] WIR BITTEN UNS IN<br />

UNSEREN ALTEN JAHREN, UNSER OHNEHIN TRAURIGES LEBEN, NICHT<br />

NOCH SCHWERER ZU MACHEN. […] HEIL HITLER!“ 1140<br />

Die Petition änderte allerdings nichts an den Plänen der NS-Behörden: Die Leitung der<br />

Einrichtung übernahm der Melker Rechtsanwalt Wilhelm Kreft. 1939 wurde das Heim<br />

aufgelöst <strong>und</strong> ging in den Besitz des RBV über. 1141<br />

Dieses Beispiel zeigt einen weiteren wichtigen Aspekt der Situation blinder Frauen. Die<br />

Einrichtung sowie die Unterkunft in Wien wurde „Mädchenheim“ genannt <strong>und</strong> auch die<br />

blinden Bewohnerinnen aus Melk bezeichneten sich in ihrem Hilferuf selbst so, obwohl sie<br />

eher ein fortgeschrittenes Alter hatten. Im damaligen Sprachgebrauch galten blinde Frauen<br />

häufig ihr Leben lang als „Mädchen“. Das hing mit dem Frauenbild dieser Zeit zusammen,<br />

das geprägt war von der Reduzierung der Frau auf ihre Aufgaben als Gattin, Hausfrau<br />

<strong>und</strong> Mutter. Blinden Frauen wurden diese Rollen von Seiten der BlindenlehrerInnenschaft<br />

<strong>und</strong> der Gesellschaft nicht zugetraut. 1142 Diese Diskriminierung von blinden <strong>und</strong> anderen<br />

Frauen mit Beeinträchtigungen setzte sich auch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges<br />

fort. Ernst Klee meinte 1980: „Behinderte Frauen sind doppelt behindert, als Frau <strong>und</strong> als<br />

Behinderte. Eine behinderte Frau wird als Frau kaum wahrgenommen, ist als Partner[in]<br />

abgeschrieben.“ 1143 Diese Situation beeinflusste die Selbstsicht der Betroffenen, sie bezeichneten<br />

sich deshalb ihr Leben lang als „blinde Mädchen“. 1144<br />

Männern, deren Erblindung als nicht erblich galt, wurde die Rolle als Ehemann <strong>und</strong><br />

Familienvater dagegen sehr wohl zugetraut. In der Durchführungsverordnung zur Gewährung<br />

von Kinderbeihilfen an kinderreiche Familien vom 20. Dezember 1938 wurden die<br />

Frauen blinder Männer besonders berücksichtigt. 1145 Für blinde Mütter gab es eine derartige<br />

Sonderregelung nicht. Auch in einem Artikel des RBV-Ges<strong>und</strong>heitsbeirates Carl Siering<br />

über staatliche Ehevermittlung geht dieser nur auf die Schwierigkeiten blinder Männer ein,<br />

eine sehende Frau zu finden. Den umgekehrten Fall behandelt er gar nicht. 1146<br />

Studie eingesehenen Quellen keine Auskunft. Unter Umständen befinden sich weitere Dokumente darüber<br />

im Oberösterreichischen Landesarchiv.<br />

1140 ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 367, Zl. 22/F, Sg. 20, Heim/Melk an den bevollmächtigten General für<br />

das Fürsorgewesen Herrn Kuszi vom 3.6.1938 [Brief in gestanzter, tastbarer Normalschrift mit ausschließlich<br />

Großbuchstaben], Betreff: Hilferuf.<br />

1141 Der RBV bekam dabei die Auflage, wenn die Wehrmacht das Gr<strong>und</strong>stück erwerben würde, den Erlös der<br />

Stadtgemeinde Melk als Darlehen für die Errichtung von Offizierswohnungen zur Verfügung zu stellen.<br />

Vgl. ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 367, Zl. 22/F, Sg. 20, Aktenschlussblatt vom 27.11.1939.<br />

1142 Vgl. Heitkamp, Situation blinder Frauen, S. 89–189, hier S. 121.<br />

1143 Klee, Behindert, S. 186.<br />

1144 Zur Identitätsbildung <strong>und</strong> -entwicklung von Frauen mit Behinderung vgl. Meier Rey, Identitätsbildung<br />

<strong>und</strong> Identitätsentwicklung.<br />

1145 Vgl. Kapitel II.2.4.2.<br />

1146 Vgl. Siering, Achtung! Ehevermittlung, S. 29–31

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