bull_99_04
Credit Suisse bulletin, 1999/04
Credit Suisse bulletin, 1999/04
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ZEIT<br />
schnellsten erwiesen, waren auch höhere<br />
Todesraten durch Herzerkrankungen wahrscheinlicher.<br />
Wir fanden jedoch auch, dass<br />
ein rascher Lebensrhythmus nachhaltige<br />
Entschädigung bietet. Wenn wir die Studienergebnisse<br />
zur nationalen Zufriedenheit<br />
in diesen Ländern mit unseren eigenen<br />
«MENSCHEN IN<br />
SCHNELLEREN ORTEN<br />
SIND ZUFRIEDENER.»<br />
Ergebnissen verglichen, zeigte sich klar,<br />
dass Menschen in Städten mit raschem<br />
Lebenstempo eher behaupteten, sie seien<br />
mit ihrem Leben zufrieden.<br />
Diese Ergebnisse veranschaulichen ein<br />
offensichtliches Paradox: Menschen in<br />
schnelleren Orten neigen eher zu koronaren<br />
Herzkrankheiten, aber sie sind auch zufriedener<br />
mit ihrem Leben. Wenn ein schneller<br />
Lebensrhythmus Stress erzeugt, der zum<br />
Rauchen und zu Herzinfarkten führt, sollte<br />
dieser Stress dann nicht auch zu einer unzufriedenen<br />
Existenz führen ?<br />
Die Wurzel dieser scheinbaren Inkonsistenz,<br />
glaube ich, sind die Wirtschaft und<br />
die kulturellen Werte, die damit zusammenhängen.<br />
Kulturen, die Produktivität<br />
und Geldverdienen betonen, erzeugen ein<br />
Gefühl von Zeitdruck und ein Wertesystem,<br />
das individualistisches Denken begünstigt;<br />
Zeitdruck und Individualismus wiederum<br />
führen zu einer produktiven Wirtschaft.<br />
Diese Kräfte – ökonomische Vitalität, Individualismus<br />
und Zeitdruck – haben sowohl<br />
positive als auch negative Konsequenzen.<br />
Einerseits erzeugen sie Stressfaktoren, die<br />
zu ungesunden Verhaltensweisen wie Rauchen<br />
und zu koronaren Herzkrankheiten<br />
führen. Andererseits bieten sie materiellen<br />
Komfort und einen Standard, der die Lebensqualität<br />
erhöht.<br />
Der wahre Schlüssel zu einem besseren<br />
Leben ist, glaube ich, nicht eine blosse Verlangsamung<br />
oder Beschleunigung der Lebensweise.<br />
Vielmehr geht es darum, ein<br />
Gleichgewicht zu erreichen zwischen Produktivität<br />
und Musse, um die Früchte der<br />
Arbeit zu geniessen. Und hier, glaube ich,<br />
hält Westeuropa einen glänzenden<br />
Leistungsrekord – verglichen<br />
zumindest mit meinem<br />
eigenen Land und den führenden<br />
Industrieländern Asiens.<br />
Der gesündeste Umgang<br />
mit der Zeit erfordert Ausgleich<br />
und Flexibilität. Viele Situationen<br />
werden am besten durch<br />
ein Lebenstempo bewältigt –<br />
Geschwindigkeit, Achten auf<br />
die Uhrzeit, Zukunftsorientierung, die Fähigkeit,<br />
Zeit als Geld zu werten. Für andere<br />
Bereiche des Lebens – Rast, Musse, das<br />
Ausbrüten von Ideen, soziale Beziehungen<br />
– ist es besser, eine entspanntere<br />
Haltung zur Zeit zu haben. Die Person und<br />
Kultur, die beide Modi in ihrem zeitlichen<br />
Repertoire zu kombinieren versteht – oder<br />
noch besser, die auf eine Vielzahl von<br />
Modi zurückgreifen kann – wird mit allen<br />
Situationen eher zurechtkommen. Sich<br />
schnell zu bewegen, wenn es die Situation<br />
erfordert, und loszulassen, wenn der Druck<br />
aufhört, sowie die vielen Schattierungen<br />
der Zeit zu verstehen, könnten die Antwort<br />
auf die Frage sein: «Welches Lebenstempo<br />
ist das beste ?»<br />
Wie kann man produktiv genug sein,<br />
um ein angenehmes Leben zu führen, den<br />
Zeitdruck, auf dem die Errungenschaften<br />
beruhen, zu minimieren, aber auch Zeit zu<br />
finden, soziale Beziehungen und eine<br />
zivilisierte Gesellschaft zu pflegen ? Dies<br />
ist eine der Künste des modernen Lebens.<br />
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LOTEN DAHORTSANG,<br />
BUDDHISTISCHER MÖNCH<br />
IN RIKON ZH: «DIE ZUKUNFT<br />
IST NICHTS ANDERES<br />
ALS EINE ERWARTUNG, DIE WIR<br />
GEGENWÄRTIG HABEN.»<br />
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CREDIT SUISSE BULLETIN 4 |<strong>99</strong>