ZEIT WIE VIEL UHR IST ES? DIE FRAGE IST BANAL, AUF DEN ZWEITEN BLICK ABER HINTERHÄLTIG. WIR LADEN SIE DESHALB EIN ZU EINER ZEITREISE. VON CHRISTIAN PFISTER, REDAKTION BULLETIN 4 CREDIT SUISSE BULLETIN 4 |<strong>99</strong>
ZEIT Verehrte Leserin, geschätzter Leser Schenken Sie uns zehn Minuten – und Sie sind mit von der Partie. Das Bulletin lädt zu einer Zeitreise. Ob Sie an allen Etappenorten verweilen wollen, sei Ihnen überlassen. Lesetempo und -intensität ebenso. Wer aussteigt, tut dies allerdings auf eigenes Risiko. Wir übernehmen keine Verantwortung, wenn Sie in ein Zeitloch fallen. Also anschnallen bitte, Rauchen einstellen und das Handy ignorieren. Was Sie erwartet ? Da wird von den Mühlen des Teufels die Rede sein, von den Brüdern Grimm, Hetze und der Wiederentdeckung der Langsamkeit. Und alles dreht sich um Zeit. Aber schauen Sie doch gleich selber. Unser erstes Reiseziel beschäftigt sich mit dem Gringo im Urwald. Tena, Ecuador. Über den Dächern des Städtchens wuchert der Urwald. Die Strasse ist nach einem ausgiebigen Mittagsregen mehr Sumpf denn Weg. «Um wie viel Uhr kommt der Bus?» Die Frage hat hier etwas Unanständiges. Die Augen der Wartenden blicken mürrisch. So was kann nur ein Gringo fragen! «Ich weiss es nicht», murmelt ein hagerer Mann. Die anderen, die auf den Bus warten, scheint die Frage zu langweilen. «Vielleicht in einer Stunde, vielleicht aber auch früher.» Ein Junge erbarmt sich des Fremden: «Der Bus kommt sicherlich gleich.» Doch die Frau zur Rechten scheint es besser zu wissen: «Der nächste Bus fährt in zwei Stunden.» Warten, die Zeit totschlagen. Aber wie? Anschauungsunterricht bieten die Einheimischen. Sie palavern, trinken eine Cola, sitzen stoisch am Randstein oder dösen vor sich hin. Unruhe wird erst entfacht, als ein Bus vorfährt. Doch der macht sich auf Richtung Hochland, nicht auf den Weg hinein in die grüne Unendlichkeit. Die Einheimischen üben sich wieder in Geduld. Nur einer bleibt unruhig und fragt, wie lange denn die Reise nach Misuhuali daure. «Weiss nicht», «eine Stunde», «nicht sehr lange», «kommt drauf an» – der Gringo kann sich die Antwort aussuchen, die ihm am besten passt. Er strengt sich mittlerweile an, nicht mehr auf seine Uhr zu schauen. Im Urwald ticken die Uhren anders, wenn überhaupt. Lassen wir den Gringo stehen. Der Bus wird ihn sicher ans Ziel seiner Unrast bringen. Irgendwie, irgendwann. Wann genau, das muss uns nicht weiter kümmern. Hoffentlich haben Sie, liebe Leserinnen und Leser, sich auf die tropische Nonchalance eingestimmt, ist Ihr Gang bereits locker und entspannt. So oder so: Bevor die Reise weitergeht, unterziehen wir Sie einem Gesundheitscheck. Vielleicht plagt Sie ja die Eilkrankheit. – Werden Sie von anderen öfters gebeten, nicht so schnell zu gehen ? – Reagieren Sie gereizt, wenn Sie eine Stunde herumsitzen müssen, ohne etwas zu tun ? – Schlingen Sie Ihr Essen runter und sind oft vor allen andern damit fertig ? – Gucken Sie häufig auf die Uhr ? – Haben Sie das Gefühl, beim Einkaufen stets in der längsten Schlange anzustehen ? – Sprechen Sie schneller als andere ? Je mehr Ja-Antworten Sie geben, desto grösser die Wahrscheinlichkeit, dass Sie an Eilkrankheit leiden. Diese äussert sich 5 CREDIT SUISSE BULLETIN 4 |<strong>99</strong>