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Credit Suisse bulletin, 1999/04

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DIE GROSSEN SÄNGERINNEN DES JAZZ<br />

VERWANDELTEN ABFALL IN ROSEN.<br />

Billie Holiday Aretha Franklin Sarah Vaughan<br />

DIE RÜCKKEHR INS<br />

VON PETER RÜEDI<br />

Vielleicht ist der Jazz, ist vor<br />

allem der Jazzgesang, der<br />

innigst mit der alten Kunst<br />

des amerikanischen Songs<br />

verbunden ist, eine Erinnerung.<br />

Die Erinnerung aber,<br />

sagt Jean Paul, ist «das einzige<br />

Paradies, woraus wir<br />

nicht vertrieben werden können».<br />

Und so ist diese kleine<br />

Geschichte, wenn sie denn<br />

eine über die Erinnerung ist,<br />

eine über den Abglanz aus<br />

dem Paradies. Die Musik dieser<br />

100 Jahre war der Jazz,<br />

allen grossartigen Anstrengungen<br />

und manchmal auch<br />

nur Angestrengtheiten der<br />

E-Musik-Moderne zum Trotz.<br />

Es gibt gute Gründe, im Jazz<br />

ebenso wie im «Song» eine<br />

abgeschlossene musikalische<br />

Ausdrucksform zu sehen oder<br />

zu hören. Aber ist Debussys<br />

oder Mozarts Musik tot, nur<br />

weil die Musikgeschichte weitergeschritten<br />

ist ? Und was<br />

heisst weiter ? Immer voran,<br />

das ist auch so eine überholte<br />

Vorstellung: dass das Neue<br />

notwendig das Bessere sei.<br />

Der Pianist Keith Jarrett mag<br />

recht haben, «vielleicht ist das<br />

ein Grund, weshalb wir die<br />

alten Balladen so gern haben:<br />

Schon vor Anbruch des Informatik-Zeitalters<br />

begannen<br />

Improvisatoren mit auseinander<br />

liegenden Partikeln zu<br />

arbeiten. Und jetzt scheint es,<br />

als würden alle behaupten,<br />

sie hätten die Freiheit, sich<br />

gegenseitig die beziehungslosesten<br />

Dinge auszuleihen.<br />

Die Video-Clip-Ästhetik. Ich<br />

denke, ohne Kontinuität kann<br />

nichts wachsen im Leben.<br />

Wir sind im Begriff, aus dem<br />

Kontinuum herauszufallen.»<br />

Der Jazz insgesamt ist ein<br />

solches Kontinuum, und das,<br />

was seine glanzvollsten und<br />

fragwürdigsten Protagonistinnen<br />

gesucht haben, ist es im<br />

Besondern. Die Sängerinnen<br />

des Jazz haben nicht komponiert<br />

und nicht dekomponiert.<br />

Sie haben Geschichten erzählt.<br />

Sie haben aus Unterhaltungsmaterial<br />

Kunst gemacht,<br />

«recycled rubbish into roses»,<br />

wie Brian Case von Billie Holiday<br />

sagte. Damit meinte er<br />

nicht die Klassiker aus dem so<br />

genannten «Great American<br />

Songbook», dem Korpus von<br />

Komponisten wie George<br />

Gershwin, Cole Porter, Harold<br />

Arlen, Jerome Kern Irving<br />

Berlin usw., Meister alle der<br />

kleinen und scheinbar leichten<br />

Form, des «Standards». Case<br />

meinte vielmehr alles, was<br />

der Markt an Tagesabfall so<br />

ans letzte Ufer schwemmte.<br />

Freilich, auch die Songs der<br />

für den Film, das Theater, das<br />

Musical schreibenden Grössen<br />

haben die Sängerinnen<br />

verwandelt, wenn sie Jazzsängerinnen<br />

waren. Das ist,<br />

bis auf jene, die in unseren<br />

Tagen an sie erinnern, das<br />

eigentliche Wunder.<br />

Der erotische Fetisch<br />

Politically absolutely incorrect<br />

waren die Sängerinnen in<br />

der Männerdomäne Jazz lange<br />

auch, was ein späteres<br />

Frauenbewusstsein «Sexualobjekte»<br />

nannte. Sie waren<br />

es noch in einem anderen<br />

Sinn als dem des glamourösen<br />

erotischen Fetischs. Insgesamt<br />

hatte die amerikanische<br />

Populärkultur – in den Songs,<br />

in den Filmen – die Erotik<br />

entsexualisiert, die Sexualität<br />

tabuisiert. Der Jazz, der seine<br />

Herkunft aus den zweifelhaften<br />

Rotlichtzonen und den Sozialschichten<br />

nie verleugnen wollte,<br />

wo die vitalen Bedürfnisse<br />

beim Namen genannt wurden,<br />

lud die sterilisierten Vorlagen<br />

sexuell wieder auf. Das betraf<br />

freilich nicht nur die Sängerinnen.<br />

Schon gar nicht meint<br />

es das Gegenteil von Kunst,<br />

sondern eben deren Rettung<br />

durch Rückkoppelung des<br />

Kopfs in den Bauch.<br />

Jazz ist improvisierte Musik,<br />

die improvisatorische Ausweitung<br />

oder Bemächtigung<br />

des «Materials» kann bis zur<br />

Unkenntlichkeit der Vorlage<br />

gehen oder nur in Nuancen<br />

bestehen. Im Grunde aber<br />

betrifft der Mehrwert, die Differenz<br />

zwischen dem Was<br />

und dem Wie, sowohl den instrumentalen<br />

wie den vokalen<br />

Jazz. Aller instrumentale Jazz<br />

stammt aus dem Gesang,<br />

aller Jazzgesang ist eine Fortsetzung<br />

der Instrumentalisten.<br />

58 CREDIT SUISSE BULLETIN 4 |<strong>99</strong>

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