bull_99_04
Credit Suisse bulletin, 1999/04
Credit Suisse bulletin, 1999/04
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Es war vor 40 Jahren. Mit dem Aufklappen<br />
des Buchdeckels öffnete er<br />
sich eine Welt – diejenige der edlen Ritter<br />
und holden Burgfräuleins nämlich, der<br />
feuerspeienden Drachen, hinterhältigen<br />
Zwerge und der wundersamen Begebenheiten.<br />
Parzifal, Tristan und Isolde, Yvain –<br />
was die meisten als nette Geschichtchen<br />
fürs Kinderzimmer abtun, war für Charles<br />
Méla das Grösste. Damals war ihm auf<br />
der Stelle klar: Um keinen Preis würde er<br />
diese Welt wieder verlassen. Ihr Herold<br />
wollte er werden.<br />
Heute ist Charles Méla ordentlicher<br />
Professor für französische Literatur des<br />
Mittelalters an der Universität Genf. Aus<br />
seiner jugendlichen Leidenschaft wurde<br />
also etwas Rechtes. Und dennoch juckts<br />
und zwackts den Beobachter, und er kann<br />
nicht umhin, sich zu fragen: Warum um<br />
alles in der Welt stellt ein Mensch sein gesamtes<br />
berufliches Dasein in den Dienst<br />
der Vergangenheit ? Macht das Sinn ? Das<br />
Vergangene ist doch bis in alle Ewigkeiten<br />
passé. Wieviel lebendiger und wichtiger<br />
kommt da im Vergleich die Gegenwart daher,<br />
die vor allem eins ist: nämlich jetzt.<br />
Die Geschichte vom Gral ist ein Thriller<br />
«Ach was», Charles Méla winkt ab. Er sitzt,<br />
einem König gleich, auf seinem Stuhl in<br />
einem der Hörsäle. Seine Handbewegung<br />
erlaubt keinen Widerspruch. Er rückt<br />
kampflustig auf die vorderste Kante der<br />
Sitzfläche, lehnt sich weit über den Tisch<br />
und setzt mit grandioser Geste zu seinem<br />
Plädoyer an: «Das Mittelalter – verstaubt ?<br />
Nicht die Spur!» Seine Stimme, die Gebärden,<br />
die Haltung sind die eines Leidenschaftlichen.<br />
Was für ein Enthusiasmus!<br />
Und welch Kontrast zu den müden Räumen<br />
des heruntergekommenen Unigebäudes!<br />
«Nehmen Sie all die Geschichten, Erzählungen,<br />
Legenden und Mythen aus dem<br />
12. oder 13. Jahrhundert – sie sind heute<br />
so lebendig wie anno dazumal. Lesen<br />
Sie die Gralsdichtung – und Ihnen wird<br />
eine geballte Ladung Emotionen entgegenschleudern,<br />
Hochspannung<br />
wird Sie an den Stuhl fesseln<br />
und wahrscheinlich nie mehr<br />
loslassen.» Charles Mélas stattlich-professorale<br />
Erscheinung<br />
kommt beim Dozieren noch<br />
besser zur Geltung. «Indem ich<br />
die Texte lese und immer wieder<br />
lese, hauche ich ihnen neues<br />
Leben ein. Das Mittelalter ist<br />
eben wie heisse Kohle: Man<br />
traut ihr kein Feuer mehr zu;<br />
doch bläst man hinein, dann<br />
glüht und flackert sie auf.»<br />
Das war erst der Anfang.<br />
Charles Méla ist ein Mann der<br />
Worte. «Ich wollte derjenige<br />
sein, der die Kohle anfacht. Ich<br />
wollte helfen, die Erinnerung<br />
an eine Kultur wach zu halten.<br />
Denn die ist unabdingbar für<br />
das Verständnis unserer Gegenwart.»<br />
Und unbestritten sind<br />
Mélas Verdienste in dieser Hinsicht.<br />
Seit bald 20 Jahren lehrt<br />
er an der Uni, während sieben<br />
Jahren war er Dekan der philosophischen<br />
Fakultät. Ausserdem<br />
hat er recht: Wie will der<br />
Mensch verstehen, was heute<br />
um ihn herum passiert, wenn<br />
er seine kulturelle und religiöse<br />
Vergangenheit nicht kennt ?<br />
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CREDIT SUISSE BULLETIN 4 |<strong>99</strong>