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Credit Suisse bulletin, 1999/04

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ZEIT<br />

kann ich überhaupt denken. Anders ist es<br />

mit dem Raum. Er ist das wichtigste der<br />

fünf Elemente; es ist abstrakter als die<br />

anderen – für den Zeitbegriff aber entscheidend.<br />

Der Raum ist eine Mutter, eine<br />

Schöpferin, eine Quelle, von der aus sich<br />

alle anderen Elemente entfalten. Erst er<br />

ermöglicht die Existenz. Zeit und Raum<br />

sind untrennbar. Im Buddhismus haben wir<br />

immer ein weibliches und ein männliches<br />

Prinzip, die sich vereinigen. Das männliche,<br />

aktive, entspricht der Zeit, das weibliche<br />

dem Raum. Zeit ist deshalb die aktive<br />

Form von Raum.<br />

C.P. Mit dieser Erklärung könnte ein Tösstaler<br />

Bauer in Ihrer Nachbarschaft aber nicht<br />

viel anfangen. Wie würden Sie denn ihm die<br />

Zeit erklären ?<br />

L.D. Das ist eine knifflige Frage (lacht<br />

herzhaft). Zeit ist abstrakt. Und dies einer<br />

Person zu erklären, die sich wenig damit<br />

auseinandersetzt, ist schwierig. Zumal sich<br />

das Wesen der Zeit in seinem umfassenden<br />

Sinn nur erahnen lässt. Denken hilft da<br />

nicht viel weiter. Zeit ermöglicht, das Zusammenleben<br />

zu organisieren. Im Buddhismus,<br />

für den meditativen Menschen, führt<br />

das Wesen der Zeit aber noch zu anderen<br />

Bewusstseinsebenen. Ziel ist die höchste<br />

Form der Selbsterkenntnis.<br />

C.P. Welches sind die wichtigsten Zeitelemente<br />

im Buddhismus ?<br />

L.D. Die wichtigsten Zeiteinheiten sind<br />

Tag und Nacht. Der Tag ist das männliche<br />

Prinzip, die Nacht das weibliche. Der<br />

Nacht weisen wir Erkenntnis und Weisheit<br />

Der 30-jährige Loten Dahortsang<br />

lebt sei 1982 in der Mönchsgemeinschaft<br />

des klösterlichen<br />

Tibet-Instituts in Rikon. Das Kloster<br />

im zürcherischen Tösstal ist<br />

«das einzige wirklich buddhistische<br />

Kloster ausserhalb Asiens».<br />

Der Dalai Lama hat es vor dreissig<br />

Jahren gegründet.<br />

«STÄNDIG GEISTERT IN DER WEST-<br />

LICHEN WELT DIE ZUKUNFT HERUM.<br />

DABEI EXISTIERT DIE ZUKUNFT GAR NICHT.»<br />

zu, dem Tag die Aktivität. Wichtige Meditationen,<br />

die mit dem Weiblichen zu tun haben,<br />

werden deshalb nachts durchgeführt –<br />

und umgekehrt. Zudem ist der vierte<br />

Monat heilig. In dieser Jahreszeit durchlebte<br />

Buddha seine entscheidenden Entwicklungen.<br />

Und nicht zufällig ist die wichtigste<br />

Gottheit im tibetanischen Denken<br />

die Gottheit Kalachakra: Kala steht für<br />

Zeit, Chakra für Rat – zusammen also der<br />

Rat der Zeit. Das zeigt, wie bedeutungsvoll<br />

für uns die Erkenntnis der Zeit ist.<br />

C.P. Der Kapitalismus diktiert unbarmherzig:<br />

Zeit ist Geld. Was halten Sie davon ?<br />

L.D. Die Aussage steht für die lineare<br />

Zeit, die relative Wirklichkeitsebene, wie<br />

wir Buddhisten das nennen. Man kann der<br />

Aussage durchaus Positives abgewinnen.<br />

«Zeit ist Geld» kann nämlich auch heissen:<br />

Der Mensch weiss die Zeit zu schätzen.<br />

Dabei sind aber die Fragen entscheidend:<br />

Helfe ich den Menschen mit meinem Tun,<br />

versuche ich, mich geistig weiterzuentwickeln?<br />

Wichtig ist das Nachdenken darüber,<br />

ob wir unsere Zeit richtig nutzen.<br />

Denn nur Geld zu verdienen kann ja nicht<br />

der Sinn des Lebens sein.<br />

C.P. Was bedeuten Ihnen Vergangenheit,<br />

Gegenwart und Zukunft ?<br />

L.D. Sie führen mich zu einem zentralen<br />

Thema. Menschen, die ins Kloster zum<br />

Meditieren kommen, machen immer den<br />

gleichen Fehler. Sie haben Erwartungen,<br />

möchten etwas erreichen. Meditation ist<br />

aber eine Sache der Entspannung. Sie gelingt<br />

nicht, wenn wir etwas erreichen wollen.<br />

Meditation ermöglicht das Erleben von<br />

absoluter Wunschlosigkeit. Der gravierende<br />

Fehler des westlichen Menschen ist:<br />

Wo auch immer er hinschaut – er möchte<br />

etwas erreichen. Er steht unter permanentem<br />

Leistungsdruck. Und das hat viel mit<br />

dem Zeitempfinden zu tun. Ständig geistert<br />

in der westlichen Welt die Zukunft herum.<br />

Dabei existiert die Zukunft gar nicht.<br />

C.P. Wie bitte ?<br />

L.D. Die Zukunft ist nichts anderes als<br />

eine Erwartung, die wir gegenwärtig haben.<br />

Ähnliches gilt für die Vergangenheit; sie ist<br />

eine gegenwärtige Erinnerung. Alles, was<br />

geschieht, findet in der Gegenwart statt,<br />

hier und jetzt. Um das zu erkennen, hilft in<br />

der Meditation das völlige Erleben des<br />

Atems: Was wir einatmen ist die Zukunft,<br />

was wir ausatmen die Vergangenheit. Dieses<br />

Gewahrsein des Atmens ist die Gegenwart.<br />

Und da wollen wir als Buddhisten<br />

hin. Denn in der wahren Lebensgestaltung<br />

existiert nur das Jetzt. Wir sprechen<br />

jetzt, die Pflanze wächst jetzt, der Wind<br />

bläst jetzt. Vergangenheit und Zukunft<br />

existieren nur in unserer Vorstellung, nur<br />

die Gegenwart ist real. In dieser Erkenntnis<br />

liegt das Geheimnis, wie wir dem Zeitzwang<br />

entkommen.<br />

C.P. Gibts noch mehr Unterschiede zum<br />

westlichen Zeitempfinden ?<br />

L.D. Im westlichen Denken ist die Zeit<br />

linear; die Existenz führt von der Schöpfung<br />

zum Untergang. Der Buddhismus denkt in<br />

Zyklen. Zeit ist kein Fluss, der von einem<br />

Punkt zum andern führt. Zeit ist für uns ein<br />

unendlich weiter, tiefer Ozean. Wir haben<br />

viel mehr Zeit, weil wir Zeit nicht linear<br />

betrachten. Da wir an die Wiedergeburt<br />

glauben, sprechen wir auch vom ersten,<br />

zweiten oder dritten Leben. Das schenkt<br />

Gelassenheit. Im westlichen «Zeit- und<br />

12<br />

CREDIT SUISSE BULLETIN 4 |<strong>99</strong>

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