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Credit Suisse bulletin, 1999/04

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ZEIT<br />

im Gefühl, ständig gehetzt zu sein,<br />

sowie in rasenden Gedanken oder in der<br />

Unfähigkeit zu angenehmen Erinnerungen.<br />

Zwei Drittel der Bevölkerung in<br />

Deutschland und Japan klagen über<br />

Zeitnot. Menschen mit Eilkrankheit leiden<br />

unter einer breiten Palette von Symptomen.<br />

Die Liste reicht – so die Spezialisten<br />

– von Gesundheitsproblemen, vor<br />

allem im Herz-Kreislauf-System, bis zur<br />

Auflösung sozialer Beziehungen und<br />

niedrigem Selbstwertgefühl. So weit wollen<br />

wir es nicht kommen lassen, liebe<br />

Leserinnen und Leser ! Schliesslich liegt<br />

uns Ihr Wohlbefinden am Herzen. Und Vorbeugen<br />

ist besser als Bohren. Darum reisen<br />

wir jetzt – für alle Fälle – erst mal schnurstracks<br />

nach Österreich, zum Verein zur<br />

Verzögerung der Zeit.<br />

Universität Klagenfurt. Hier<br />

unterrichtet Professor Peter<br />

Heintel am Institut für Interdisziplinäre<br />

Forschung und<br />

Fortbildung. Er rief vor neun<br />

Jahren einen Verein ins<br />

Leben, der gegen Stress und<br />

übertriebenes Lebenstempo<br />

mobil macht.<br />

Professor Heintel, warum<br />

haben Sie den Verein zur Verzögerung<br />

der Zeit gegründet ?<br />

Ich bin Philosoph. Und Philosophen<br />

müssen nachdenken.<br />

Dazu braucht es Zeit. Zeit,<br />

die auch im Wissenschaftsbetrieb<br />

immer knapper wird.<br />

Zudem setzte in mir der<br />

Tod eines Freundes einiges<br />

in Gang. Er hatte immer<br />

geschuftet – so, als ob er<br />

seinem kurzen Leben alles<br />

abringen wollte, was möglich<br />

war. Das hat mich zur<br />

Vereinsgründung inspiriert.<br />

Nun sind Sie ein bekennender<br />

Zeitverzögerer. Haben Sie<br />

damit Erfolg ?<br />

Und ob. Insbesondere das<br />

Interesse der Medien ist<br />

enorm. Ebenso der Zuspruch<br />

für unsere Veranstaltungen.<br />

Zudem werde ich häufig von<br />

Firmen für Gutachten und<br />

Organisationsanalysen herangezogen.<br />

Mittlerweile sind<br />

wir rund 1000 Gleichgesinnte<br />

aus ganz Europa. Wir treffen<br />

uns an Symposien und geben<br />

eine Zeitung heraus. Auch<br />

in der Schweiz gibt es eine<br />

Gruppe.<br />

«Ich verzögere, also bin ich»,<br />

lautet Ihr Motto. Warum ?<br />

Alle brauchen Pausen, um<br />

innezuhalten. Tut man das<br />

nicht, verliert man sich. Wir<br />

sind es in unserem Kulturkreis<br />

gewohnt, immer in die<br />

Zukunft davonzulaufen. In<br />

einer Art Daueraktivismus<br />

stellen wir uns nicht uns selber.<br />

Selbst Pausen sind immer<br />

dazu da, um gefüllt zu<br />

werden. Da halte ich es lieber<br />

mit dem deutschen Denker<br />

Walter Benjamin, der sagte:<br />

«Glück heisst, bei sich selber<br />

ankommen und nicht<br />

erschrecken.»<br />

Wie funktioniert die Verzögerungstaktik<br />

im Alltag ?<br />

Ein Vereinsmitglied hat sich<br />

gegen die Hetze in seinem<br />

Unternehmen gewehrt, indem<br />

es sagte: «Ich bin Mitglied im<br />

Verein zur Verzögerung der<br />

Zeit, das können sie mit mir<br />

nicht machen !» Es hat sich<br />

jedoch nicht über den Druck<br />

an und für sich beklagt. Es<br />

kritisierte vielmehr die Ineffizienz<br />

des übertriebenen Aktivismus.<br />

Vielfach ist der Zeitdruck<br />

in den Firmen absolut<br />

blödsinnig und provoziert<br />

Scheinlösungen, die nicht<br />

lange Bestand haben. Die<br />

Diskussion um Langsamkeit<br />

und Lebenstempo ist für unsere<br />

Gesellschaft wesentlich.<br />

Wir müssen für unsere Probleme<br />

Lösungen finden, die<br />

über längere Zeiträume gültig<br />

sind. Nehmen wir uns das zu<br />

Herzen, liebe Leserinnen und Leser. So<br />

sind wir abgeklärt genug für die nächste<br />

Station. Dort begegnen wir dem Ernst des<br />

Lebens. Hier gilt: Zeit ist Geld.<br />

«Wo sind die entspannten Mittagessen<br />

mit zwei Martinis geblieben ?», fragt<br />

Robert Levine in Bezug auf die Geschäftswelt<br />

wehmütig. Der amerikanische<br />

Sozialpsychologe reiste rund um die<br />

Welt und studierte in 31 Ländern das<br />

Lebenstempo unterschiedlicher Kulturen<br />

(siehe S. 8). Die Resultate hat er in<br />

einem Buch zusammengetragen: «Eine<br />

Landkarte der Zeit». Levine zeigt, wie<br />

sich das Lebenstempo, vorab in den<br />

industrialisierten Ländern, verschärft<br />

hat. Die ausbleibenden Martinis sind<br />

da nur ein Phänomen, welches für die<br />

Beschleunigung des Lebenstempos<br />

steht. Schliesslich ist Zeit Geld. Dieser<br />

Gedanke beschäftigte schon die Römer.<br />

Ihr Denker Seneca echauffierte sich:<br />

«Man braucht die Zeit gedankenlos, so<br />

als koste sie nichts.» Die 86 400 Sekunden<br />

eines Tages wollen genutzt sein.<br />

Zeit ist als knappe Ressource und als<br />

Wettbewerbsfaktor Gegenstand unzähliger<br />

Bücher. Der Umgang mit Zeit füllt<br />

Seminare und die Kasse der Organisatoren.<br />

Deren Credo: «Zeitökonomie<br />

müssen Sie beherrschen, sonst gehen<br />

Sie unter.» Doch die Fülle von Kursen<br />

und Büchern hat die Situation nicht entschärft.<br />

Chronische Zeitknappheit steht<br />

in der Sorgenskala vieler Manager an<br />

oberster Stelle. Und das hat Konsequenzen.<br />

Eine deutsche Studie förderte<br />

1<strong>99</strong>8 zu Tage: Zeitmangel ist verantwortlich<br />

dafür, dass es an Innovationen fehlt.<br />

«Spätestens dies müsste deutlich machen,<br />

dass ausschliessliche Beschleunigung<br />

eher ans Ende denn ans Ziel führt»,<br />

kommentiert Karlheinz A. Geissler die<br />

6<br />

CREDIT SUISSE BULLETIN 4 |<strong>99</strong>

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