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Credit Suisse bulletin, 1999/04

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MAGAZIN<br />

Diana Krall Dee Dee Bridgewater Cassandra Wilson<br />

PARADIES<br />

So kommen wir um ein Paradox<br />

nicht herum: Die Mutter<br />

auch aller weiblichen vokalen<br />

Jazzkunst ist ein Mann, Louis<br />

Armstrong.<br />

Emotionale Aufladung<br />

In mancher Hinsicht ist Billie<br />

Holiday (1915–1959) der<br />

Inbegriff des weiblichen Jazzgesangs.<br />

Sie war die Weltmeisterin<br />

der doppelten Lesart<br />

banaler Texte («Lyrics»<br />

heissen die im Song) und der<br />

emotionalen Aufladung dürftiger<br />

Melodien. Weil sie mit<br />

ihrem tragischen Leben deren<br />

banales Pathos unerwartet<br />

beglaubigte, erhob sie die<br />

Petitessen zu grosser Kunst.<br />

Ihre Stimme war klein, in Volumen<br />

und Umfang. Das Mikrofon,<br />

das für ihren Stil der<br />

Intimität und Verinnerlichung<br />

unerlässliche Voraussetzung<br />

war, war nicht ihre Krücke,<br />

sondern ihr Instrument. Das<br />

Mikrofon macht keine Sängerin<br />

besser, es vergrössert<br />

allenfalls ihre Fehler.<br />

Die Durchdringung von<br />

Vokal- und Instrumentalkunst<br />

ist im Jazz nirgends inniger<br />

zu erfahren als in den Aufnahmen,<br />

welche die Holiday<br />

mit ihrem Seelenbruder, dem<br />

Tenorsaxofonisten Lester<br />

Young zwischen 1937 und<br />

1941 einspielte.<br />

«Lady Day», diese Stimme<br />

aus der Nacht, setzte sich<br />

selbst aus, mit allem «Glanz<br />

und Schmutz zugleich ihrer<br />

Seele» (Kleist). Ihre Rivalin,<br />

ihr Gegenprinzip geradezu, war<br />

Ella Fitzgerald (1918–1<strong>99</strong>6):<br />

ein Kind des Glücks, eine<br />

strahlende Existenz, eine<br />

Virtuosin. Kelterte die Holiday<br />

ein Maximum von Ausdruck<br />

aus einen Minimum von technischen<br />

Mitteln, drängte die<br />

technische Brillanz der Fitzgerald<br />

die Emotionalität lange<br />

in den Hintergrund, zu der<br />

sie auch fähig war. A shiny<br />

person. Stark, selbstsicher,<br />

in ungewöhnlichem Mass professionell<br />

im Umgang mit<br />

grossen Bands, dem Publikum,<br />

der Bühne, wurde Ella<br />

über das Jazzpublikum hinaus<br />

zu einem Star – durch ihre<br />

Bühnenpräsenz ebenso wie<br />

durch ihre umfangreiche Plattenproduktion,<br />

allem voran<br />

ihren legendären «Songbooks».<br />

Ella katapultierte<br />

Armstrongs «scat»-Gesang<br />

(die vokale Improvisation ohne<br />

Worte) in stratosphärische<br />

Dimensionen und brachte<br />

damit Riesenauditorien zum<br />

Rasen. Heute bewegen uns<br />

ihre intimeren Seiten, ihre<br />

Duos mit Ellis Larkins, Oscar<br />

Peterson oder Jim Hall z. B.,<br />

mehr als ihr vokaler Extremalpinismus.<br />

Die dritte Gründermutter<br />

Sarah Vaughan, die dritte der<br />

Gründermütter des Jazzgesangs,<br />

hat das technische<br />

Potenzial von Ella mit dem<br />

intellektuellen Witz und Biss<br />

des Bebop kombiniert. Dabei<br />

bremste sie sich gelegentlich<br />

klug im Einsatz der Möglichkeiten<br />

ihres Kontra-Alts, die<br />

denen einer Opernsängerin<br />

in nichts nachstanden. Noch<br />

mehr als ihre Kolleginnen<br />

aus dem Swing verstand sie<br />

sich als Instrumentalistin und<br />

Partnerin der Improvisatoren;<br />

sie arbeitete bewusst an der<br />

dunklen kehligen Klangqualität<br />

ihrer Stimme.<br />

Dies kann keine Enzyklopädie<br />

des Jazzgesangs sein.<br />

Von der grossen Carmen<br />

McRae müsste die Rede sein<br />

– wie Sarah Vaughan war<br />

sie nicht zufällig auch eine<br />

exzellente Pianistin. Von den<br />

kühlen weissen Damen wäre<br />

zu reden, die innerlich glühten<br />

(Anita O’Day, June Christy,<br />

Peggy Lee); von den in der<br />

Vaughan-Nachfolge noch<br />

emanzipierteren Bop-Artistinnen<br />

(allen voran der kürzlich<br />

verstorbenen Betty Carter,<br />

aber auch von Sheila Jordan<br />

oder Helen Merrill); von der<br />

mächtigen, labilen Dinah<br />

Washington, deren kehligem<br />

Vibrato am deutlichsten die<br />

Herkunft aus dem Blues und<br />

dem Gospel anzuhören war,<br />

wie später Aretha Franklin<br />

und allen, die aus der Soul-<br />

Küche von Ray Charles<br />

kamen. Von ihrer Wahlverwandten<br />

Diana Ross. Von<br />

Nina Simone. Von den Frauen,<br />

welche ihren Gesang aus dem<br />

59<br />

CREDIT SUISSE BULLETIN 4 |<strong>99</strong>

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