bull_99_04
Credit Suisse bulletin, 1999/04
Credit Suisse bulletin, 1999/04
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Uhrendenken» kommt immer nach der<br />
Eins die Zwei und dann die Drei und so<br />
weiter. Im Westen empfinden Sie sich als<br />
Punkt auf dem Zifferblatt einer Uhr; die<br />
Zeiger streichen an Ihnen vorbei; Sie wissen<br />
nie, wo die Zeiger stehen. Die Menschen<br />
im Osten hingegen sitzen auf dem<br />
Zeiger. Für sie ist immer jetzt, jetzt, jetzt.<br />
Nicht immer der Zukunft anzuhängen,<br />
daran erinnert die orientalische Weisheit:<br />
Der Weg ist das Ziel.<br />
C.P. In der Bibel steht: «Ein Tag vor Gott ist wie<br />
tausend Jahre, und tausend Jahre sind wie<br />
ein Tag.» Können Sie dieses Rätsel lösen ?<br />
L.D. Für mich zeigt das Zitat den Unterschied<br />
zwischen erlebter Zeit und chronologischer<br />
Zeit. Zwei Stunden erscheinen<br />
einem bisweilen wie zehn Minuten, wenn<br />
man in etwas vertieft ist. In Momenten der<br />
Langeweile ist es dann umgekehrt. Wenn<br />
Sie zum Beispiel in die Lektüre versunken<br />
sind, dann erleben sie die Zeit nicht mehr.<br />
Sie erleben fast eine Zeitlosigkeit, die viel<br />
mit dem Meditationserlebnis gemeinsam<br />
hat. Jeder Mensch kennt das. Die erlebte<br />
Zeit verschiebt unsere Auffassung von<br />
Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart.<br />
C.P. Wäre das ideale Zeitempfinden nicht eine<br />
Mischung aus westlicher Zukunftsorientiertheit<br />
und östlichem Gegenwartsbezug ?<br />
L.D. Ich finde es inspirierend, über andere<br />
Zeitmessungen und Zeitempfindungen<br />
nachzudenken. Das gibt spannende Impulse<br />
und erweitert den eigenen Horizont, um<br />
die gewöhnliche Wirklichkeit zu überwinden.<br />
Ich möchte die Kulturen jedoch nicht<br />
gegeneinander ausspielen. Im Buddhismus<br />
gibt es keine einzig gültige Wahrheit.<br />
Dennoch glaube ich, dass das buddhistische<br />
Gewahrsein der Gegenwart für alles,<br />
was Menschen tun, bereichernd ist. Der<br />
Geist muss da sein, wo der Körper ist. Wenn<br />
ich Holz säge und nicht bei der Sache bin,<br />
kann ich mir die Hand abschneiden.<br />
C.P. Die Betonung der Zukunft hat jedoch<br />
den Vorteil, dass sich unsereiner über die<br />
Konsequenzen einer Handlung Rechenschaft<br />
ablegen muss.<br />
L.D. Die ist im Buddhismus nicht anders.<br />
Das hat mit dem karmischen Gesetz zu tun,<br />
dem Prinzip von Ursache und Wirkung.<br />
Welche Tat führt zu welcher Wirkung? Die<br />
Frage ist in der buddhistischen Auffassung<br />
des Karma zentral; sie bedingt ein<br />
ganzheitliches Denken. Wenn ich etwas<br />
wegwerfe, so wirkt das auf andere. Wenn<br />
ich etwas sage, ebenso.<br />
C.P. Viele beklagen hierzulande das horrende<br />
Lebenstempo. Was würden Sie ihnen empfehlen<br />
?<br />
L.D. Da gibts zum einen einen banalen<br />
Vorschlag: Setzen Sie immer Prioritäten.<br />
Dabei ist eine Frage entscheidend: «Was<br />
ist für mich wichtig?» Was weniger zählt –<br />
auf das sollte verzichtet werden. Das ist<br />
die praktische Seite. Eine andere Annäherung<br />
ist das Empfinden von Stress. Es gibt<br />
Menschen, die machen sehr viel und empfinden<br />
keinen Stress. Andere wiederum<br />
tun wenig und sind gestresst. Stress ist<br />
eine Einstellungssache, eine psychische<br />
Konstellation. In der hiesigen Leistungsgesellschaft<br />
gilt: Je mehr Leistung jemand<br />
bringt, desto grösser sein Wert. Davon<br />
müssen wir abkommen. Es ist besser, weniger<br />
zu machen – das dafür<br />
ausgezeichnet. So kommt es<br />
zu weniger Zeitnot und Stress.<br />
C.P. Der Buddhismus geniesst im<br />
Westen grossen Zuspruch. Hat<br />
das auch mit dem Lebenstempo<br />
zu tun, das den Menschen zu<br />
schaffen macht ?<br />
L.D. Da besteht sicherlich ein<br />
Zusammenhang. Viele Menschen<br />
finden keine Zeit, sich zu<br />
entspannen – weder körperlich<br />
noch geistig. Dann geraten sie<br />
in einen Strudel. Der Buddhismus<br />
bietet die Möglichkeit, neue<br />
Ideen ins Leben zu integrieren –<br />
und zwar ohne im strengen<br />
Sinne religiös zu sein oder das<br />
Leben eines Aussteigers führen zu müssen.<br />
Buddhismus ist keine Religion, sondern<br />
eine Methode, um geistige und psychische<br />
Fragen zu lösen. Er lehrt die Menschen,<br />
auf ihr Herz zu hören, auf die eigene Körpersprache<br />
zu reagieren. Darum ist Achtsamkeit<br />
für uns so zentral.<br />
C.P. Wie meinen Sie das ?<br />
L.D. Achtsamkeit ist der erste Schritt,<br />
sich kennenzulernen, im Hier und Jetzt zu<br />
leben. Wenn ich mit achtsamem Schritt<br />
durch einen Wald gehe, so ist das ganz<br />
anders, als einfach durch den Wald zu<br />
marschieren. Es gibt auch hundert Arten,<br />
Wasser zu trinken. Sie können es hastig<br />
runterschlucken oder so bewusst, dass sie<br />
den Geschmack des Wassers spüren.<br />
Achtsamkeit öffnet das Tor zur Meditation.<br />
C.P. Ist das Nirwana das Ende der Zeit ?<br />
L.D. Im konventionellen, chronischen Zeitrhythmus<br />
können wir das so sagen. Ist das<br />
Nirwana aber erreicht, so befindet sich der<br />
Mensch auf einer völlig anderen Wirklichkeitsebene.<br />
Darum ist im Nirwana weder<br />
Zeit noch keine Zeit. Nirwana ist der<br />
Zustand höchster Erkenntnis. Es übersteigt<br />
unser Denken und findet jenseits<br />
der Sprache statt.<br />
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CREDIT SUISSE BULLETIN 4 |<strong>99</strong>