bull_99_04
Credit Suisse bulletin, 1999/04
Credit Suisse bulletin, 1999/04
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Ergebnisse in einem Essay. Geissler ist<br />
Professor an der Universität der Bundeswehr<br />
in München. «Wer zu schnell ist,<br />
den bestraft das Leben», lautet ein Bonmot<br />
des Zeitexperten. «Durch Schnelligkeit<br />
wird vieles übersehen, vieles<br />
überrannt, vieles nicht gehört, nicht<br />
verstanden und nicht erfühlt, letztlich<br />
also nicht erlebt und nicht erfahren.<br />
Wer alles und jedes in seinem Betrieb<br />
beschleunigt, wird bald alleine sein und<br />
nicht sehr erfolgreich.» Selbst wenn wir<br />
wollten, liebe Leserinnen und Leser: Zeit<br />
ist zwar Geld – noch sind wir aber nicht in<br />
der Lage, all unsere Zeit produktiv zu<br />
nutzen. Versetzen wir uns doch nur für<br />
einen Moment in eine Einkaufsschlange in<br />
Moskau zu Zeiten vor Glasnost und geniessen<br />
eine Zwangspause.<br />
«Wenn man daran glaubt,<br />
dass Zeit Geld ist, kommt<br />
auch das Warten teuer», sagt<br />
Robert Levine. Wirtschaftswissenschaftler<br />
haben<br />
geschätzt, dass in der alten<br />
Sowjetunion über 30 Milliarden<br />
Stunden pro Jahr mit<br />
Warten beim Einkaufen verschwendet<br />
wurden. Das entspricht<br />
der Jahresarbeitszeit<br />
von 15 Millionen Menschen.<br />
Levine: «Viele Forscher sind<br />
überzeugt, dass die Zeitverschwendung<br />
eines der<br />
Grundleiden war, die zum<br />
Zusammenbruch der Sowjetunion<br />
führten.» Doch auch<br />
die westliche Welt ist mit<br />
Zwangspausen gut vertraut.<br />
Ein Durchschnittsamerikaner<br />
verbringt fünf Jahre seines<br />
Lebens mit Schlange stehen<br />
und sechs Monate mit Warten<br />
bei Rotlicht. Warten bedeutet<br />
für die meisten Leiden. Das<br />
hat sich die niederländische<br />
Supermarktkette Hoogvliet<br />
zu Herzen genommen: Sie<br />
schenkt jedem Kunden die<br />
Ware in seinem Einkaufskorb,<br />
sobald vor ihm an der Kasse<br />
mehr als zwei Personen<br />
anstehen. Und eine Bank in<br />
New Jersey, USA, schreibt<br />
allen Klienten fünf Dollar gut,<br />
sobald diese mehr als fünf<br />
Minuten warten müssen. Das<br />
BULLETIN lässt Sie nicht warten, geschätzte<br />
Reisegruppe. Nicht dass Sie<br />
noch auf falsche Gedanken kommen und<br />
uns die Wartezeit in Rechnung stellen.<br />
Deshalb verlassen wir schleunigst die<br />
Warteschlangen dieser Welt und beschäftigen<br />
uns mit den Mühlen des Teufels.<br />
Wie viel Uhr ist es? Noch ist es nicht<br />
so lange her, und die Frage hätte Kopfschütteln<br />
ausgelöst. Die einheitliche<br />
Zeitmessung ist eine moderne Erfindung.<br />
Alles fing damit an, dass vor rund 5500<br />
Jahren die Menschen die ersten Sonnenuhren<br />
entwarfen. Mechanische Zeitmesser<br />
tauchten im 14. Jahrhundert auf.<br />
Galileo Galilei sorgte für einen grossen<br />
Entwicklungsschritt, indem er Ende des<br />
16. Jahrhunderts die Eigenschaften des<br />
Pendels entdeckte. Erst die Pendeluhr<br />
ermöglichte ein Leben nach Stunden,<br />
Minuten und Sekunden. Die ersten Armbanduhren<br />
tauchten 1850 auf. Der<br />
Glaube an die Diktatur der mechanischen<br />
Zeitmesser ist aber nicht überall verbreitet.<br />
Andere Kulturen richten sich ihr<br />
Leben weiterhin nach Ereignissen ein.<br />
Das kann der Geruch eines Baumes sein<br />
oder die Dauer, die es braucht, um Reis<br />
zu kochen. Die Kabyle, eine algerische<br />
Volksgruppe, bezeichnen die Uhren<br />
gar als «Mühlen des Teufels». «Für viele,<br />
wenn nicht gar die meisten Menschen<br />
auf der Welt wäre ein Leben nach der<br />
mechanischen Uhr so abnormal und<br />
verwirrend wie das Leben ohne einen<br />
festen Zeitplan für einen Westeuropäer»,<br />
betont Robert Levine. Burmesische<br />
Mönche beispielsweise haben ein todsicheres<br />
System, um rechtzeitig aufzustehen.<br />
Für sie ist Tagwacht, wenn<br />
es hell genug ist, dass sie die Adern auf<br />
ihrer Haut erkennen. Vielleicht schwingt<br />
in der Ablehnung der Uhrzeit die Einsicht<br />
mit, dass angesichts der Ewigkeit<br />
jede Zeitrechnung wenig Bedeutung hat.<br />
Im Märchen «Der Hirtenjunge» legen<br />
die Brüder Grimm offen, welch unendliche<br />
Dimensionen sich hinter der Frage<br />
nach dem Wesen der Zeit verbergen.<br />
So erzählt der Hirtenjunge: «In Hinterpommern<br />
liegt der Demantberg, der hat<br />
eine Stunde in die Höhe, eine Stunde in<br />
die Breite und eine Stunde in die Tiefe;<br />
dahin kommt alle hundert Jahr ein Vöglein<br />
und wetzt sein Schnäblein daran,<br />
und wenn der ganze Berg abgewetzt ist,<br />
dann ist erst eine Sekunde von der<br />
Ewigkeit vorbei.» Wir haben Ihnen einiges<br />
zugemutet, verehrte Leserin, geschätzter<br />
Leser. Die Sprünge waren bisweilen abrupt.<br />
Und falls Sie ob der Vielzahl der Eindrücke<br />
nicht mehr wissen, wo ihnen der<br />
Kopf steht, so entsinnen Sie sich doch der<br />
Volksweisheit: Gut Ding will Weile haben.<br />
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CREDIT SUISSE BULLETIN 4 |<strong>99</strong>