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Credit Suisse bulletin, 1999/04

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ZEIT<br />

TEMPO MACHT GLÜCKLICH<br />

AUTOR: ROBERT LEVINE*<br />

MAL LANGSAM, MAL SCHNELL –<br />

DIE KOMBINATION IST EINE KUNST.<br />

Dem zivilisierten Geist ist es gelungen, die<br />

Zeit – jene obskurste und abstrakteste aller<br />

Ungreifbarkeiten – zur objektivsten Quantität<br />

überhaupt zu machen, nämlich zu Geld.<br />

Wir leben in einer Welt, in der Arbeiter pro<br />

Stunde, Rechtsanwälte pro Minute bezahlt<br />

und Werbezeiten nach Sekunden verkauft<br />

werden. Wenn wir nach der Ursache für<br />

das ausser Kontrolle geratene Lebenstempo<br />

suchen, wird oft anklagend auf<br />

Technologie und Grossindustrie gewiesen.<br />

«Die Zeit regiert das Leben» lautet ein<br />

Kredo der Nationalen Gesellschaft der<br />

Uhrensammler in Amerika. Diese tyrannische<br />

Auffassung kann auch für das Zeitklischee<br />

der Geschäftsleute rund um die<br />

Welt stehen. Was sollten wir sonst von einer<br />

Kultur, in der Zeit mit Geld gleichgesetzt<br />

wird, erwarten ? Erfolg und Produktivität<br />

sind unlösbar mit Stress, Herzinfarkten und<br />

Elend verbunden. Je mehr wir produzieren,<br />

desto schlechter wird unsere Lebensqualität.<br />

Dies ist ein vorherrschendes Klischee<br />

in der heutigen industrialisierten Welt. Ein<br />

hirnloses Klischee, wie es scheint.<br />

Sagt dieses vereinfachte Bild der Uhr<br />

als ein feindseliger Diktator wirklich alles ?<br />

Nach meinen Forschungsergebnissen nicht.<br />

In den vergangenen beiden Jahrzehnten<br />

reiste ich durch die Welt, um die Zeitauffassungen<br />

der Menschen zu studieren und<br />

zu beobachten, wie diese Sichtweisen<br />

ihre Lebensqualität beeinflussen. Vor allem<br />

stellte ich fest, dass die Beziehung zwischen<br />

Geschwindigkeit und Lebensqualität komplizierter<br />

ist, als wir zu denken geneigt sind.<br />

Es ist eigentlich eine Geschichte mit guter<br />

und schlechter Botschaft und vielen Variationen<br />

zum Thema. In einigen meiner neuesten<br />

Studien, die in den letzten paar Jahren<br />

durchgeführt wurden, waren meine<br />

Studenten und ich mit einem Projekt im<br />

grossen Massstab beschäftigt, um das Lebenstempo<br />

in Grossstädten rund um die<br />

Welt zu messen. Unsere Forschung wurde<br />

von zwei Fragen bestimmt: Erstens, welche<br />

Städte und Kulturen der Welt sind die<br />

schnellsten bzw. langsamsten ? Und zweitens,<br />

was sagen diese Geschwindigkeiten<br />

über die Lebensqualität der Menschen aus?<br />

Um diese Fragen zu beantworten, haben<br />

wir eine Serie von Experimenten in Grossstädten<br />

von 31 Ländern durchgeführt. In der<br />

Schweiz zum Beispiel führten wir unsere<br />

Experimente in Bern und Zürich aus. In<br />

jedem Land untersuchten wir drei Indikatoren<br />

des Lebenstempos: Erstens massen<br />

wir die durchschnittliche Schrittgeschwindigkeit<br />

zufällig ausgewählter Fussgänger<br />

über eine Entfernung von 60 Fuss (18 Meter).<br />

Zweitens massen wir das Arbeitstempo<br />

am Arbeitsplatz – wie schnell führte ein<br />

Postbeamter eine Standardfrage nach<br />

Briefmarken aus. Drittens, als eine Einschätzung<br />

des Interesses einer Stadt an<br />

der Uhrzeit, beobachteten wir die Genauigkeit<br />

von 15 zufällig ausgewählten Bankuhren<br />

in den wichtigsten Geschäftsvierteln.<br />

Alle Messungen wurden an klaren Sommertagen<br />

in diesen Geschäftsvierteln zu<br />

Hauptgeschäftszeiten durchgeführt. Mit<br />

anderen Worten, wir untersuchten den<br />

Lebensrhythmus an einem Arbeitstag. Um<br />

sicherzustellen, dass in jeder Stadt identische<br />

Methoden angewandt wurden, trafen<br />

wir eine Anzahl von Vorsichtsmassnahmen.<br />

Die drei Messergebnisse für jedes Land<br />

wurden statistisch zu einer Punktezahl des<br />

Lebenstempos kombiniert.<br />

Westeuropa drückt aufs Gas<br />

Wir fanden grosse Unterschiede im Lebenstempo<br />

rund um den Globus. Grosse Städte<br />

in Westeuropa und Japan erschienen in<br />

unseren Messungen als die schnellsten,<br />

während Länder, die sich gegenwärtig in<br />

einer wirtschaftlich schwierigen Lage befinden<br />

(wie Mexiko, Brasilien, Indonesien), zu<br />

den langsamsten gehörten. Selbst wenn wir<br />

Städte innerhalb der Vereinigten Staaten<br />

verglichen, stellten wir oft grosse Unter-<br />

* Dies ist ein Auszug aus einem Essay, den der amerikanische Sozialpsychologe Robert Levine für GDI_Impuls 4/98<br />

geschrieben hat, die Vierteljahresschrift für Wirtschaft und Gesellschaft des Gottlieb Duttweiler Instituts, 8803 Rüschlikon.<br />

Probenummern und weitere Infos erhalten Sie unter Telefon 01 724 61 11 oder E-Mail: viola.rettig@gdi.ch.<br />

8 CREDIT SUISSE BULLETIN 4 |<strong>99</strong>

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