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bull_99_04

Credit Suisse bulletin, 1999/04

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die ausgetretenen Sandsteinstufen der<br />

500-jährigen Turmtreppe hoch. Nach einigen<br />

Umdrehungen des Treppenlaufs eine<br />

zweite Türe. Markus Marti zieht den Kopf ein<br />

und tritt durch den niedrigen Türrahmen.<br />

Hier ist sein Reich. Als Wächter über den<br />

Berner Zytgloggeturm liegt es in seiner<br />

Hand, dass das Uhrwerk stets richtig tickt.<br />

Unter dem lauten Ticktack erteilt Marti<br />

eine kurze Lektion in Geschichte der Chronometrie:<br />

«Die Erfindung der Hemmung<br />

wars. Ohne dieses technische Grundprinzip<br />

war ein gleichmässig ablaufendes<br />

Räderwerk nicht möglich.» Vor<br />

700 Jahren läutete es die Geburtsstunde<br />

der mechanischen<br />

Uhr ein. Mit seinem ersten Automaten<br />

konnte der Mensch nun<br />

die Zeit messen und verkünden,<br />

seinen Tag in exakte Zeitpunkte<br />

und -räume einteilen.<br />

Und ihm war geholfen. Scheinbar<br />

wenigstens. Denn mit der<br />

Einführung der Uhr hielt die<br />

Pünktlichkeit Einzug, tragende<br />

Säule einer wohlgeordneten<br />

Gesellschaft, Schrittmacher<br />

eines arbeitsamen Lebens,<br />

Taktgeber für einen durchorganisierten<br />

Alltag.<br />

Für eine mittelalterliche Stadt,<br />

die etwas auf sich hielt, gehörte<br />

eine schöne Uhr mit wohlklingender<br />

Glocke bald zum guten<br />

Ton. Der Stadt Bern ging es da<br />

nicht anders. Sie legte sich Ende<br />

des 14.Jahrhunderts bereits<br />

die erste Turmuhr zu. Doch das<br />

reparaturbedürftige Werk musste<br />

nach kurzem gleich zweimal<br />

ersetzt werden. Eines Tages<br />

anno Domini 1527 klopfte der<br />

Schlosser Kasper Brunner im<br />

Rat an die Tür, rollte seinen<br />

Plan für ein Monumentaluhrwerk unter<br />

den Nasen der Ratsmitglieder aus und erhielt<br />

auch gleich den Auftrag. Die 1000<br />

Gulden für die dreijährige Qualitätsarbeit<br />

waren gut angelegt. Das schmiedeiserne<br />

Uhrwerk, das aus fünf Einzelwerken in einer<br />

spätgotischen Strebekonstruktion besteht,<br />

gehört zu den grössten der Welt und ist<br />

heute noch so verlässlich wie dazumal.<br />

Die Uhr braucht ihn – und umgekehrt<br />

Seit über 20 Jahren gehört der Gang in<br />

den Turm zum täglichen Brot des 55-jährigen<br />

Marti. «Meist schaue ich hier auf dem<br />

Nachhauseweg nach dem Rechten.» Seit<br />

der gelernte Elektroingenieur und heutige<br />

Marketingleiter einer Mobilkommunikationsfirma<br />

nach Bern gezogen ist, hats ihm<br />

die Geschichte der Altstadt angetan. Als<br />

dann die Stelle des Zytgloggerichters ausgeschrieben<br />

war, wusste er, was geschlagen<br />

hat. Er bewarb sich, erhielt den Nebenjob.<br />

«Sehen Sie wie praktisch», er zeigt<br />

durch die schmale Scharte in der Turmmauer,<br />

die unmittelbar hinter dem Zifferblatt<br />

liegt, «dort drüben wohne ich.» Dass<br />

er die Turmuhr jeweils zwei Minuten vorstellt,<br />

um nie zu spät zu kommen, wenn<br />

er sich mit einem Blick durchs Küchenfenster<br />

nach ihr richtet, war ein Scherz.<br />

Im Gegenteil: «Ich achte darauf, dass die<br />

Uhr immer etwa eine Minute nachgeht. So<br />

kommt jeder Tourist, der zur vollen Stunde<br />

das Figurenspiel an der Turmfassade von<br />

Anfang bis Ende sehen will, auf seine<br />

Kosten, auch wenn er zu spät kommt.»<br />

Markus Marti steht vor dem meterhohen<br />

Räderwerk, das manche Filmkulisse<br />

glatt in den Schatten stellt. Er versorgt<br />

seine Aktentasche an ihren Platz, hängt<br />

sein Jackett ordentlich auf. Die Arbeit<br />

kann beginnen. Sie dauert eine Viertelstunde<br />

und muss jeden Tag aufs Neue<br />

verrichtet werden. Da ist die Uhr unerbitt-<br />

MARKUS MARTI SEI DANK, DASS GANZ BERN<br />

RICHTIG TICKT. DENN ER IST VERANTWORTLICH<br />

FÜR DAS UHRWERK IM ZYTGLOGGETURM.<br />

lich: Nach 29 Stunden steht sie still. «Das<br />

Prinzip ist dasjenige eines jeden Guggerziitli»,<br />

erklärt er. «Ich muss jetzt die Gewichte<br />

von 400 Kilogramm mit der Seilwinde<br />

in den Seilschacht ziehen.» Markus<br />

Marti spuckt in die Hände – zumindest<br />

symbolisch – greift nach dem Kurbelgriff<br />

und kurbelt, was das Zeug hält. Damit er<br />

das Werk, das während des Aufziehens ja<br />

stillstehen würde, nachher nicht neu richten<br />

muss, hängt er für den Vorgang das<br />

Ersatzgewicht ein – alles Handgriffe, die<br />

er im Schlaf kennt. Um die Uhr zu stellen,<br />

muss er das Pendel anhalten, sodann das<br />

Gestell erklimmen und die Pendelbewegung<br />

von Hand beschleunigen. Eine beschwerliche<br />

Arbeit. Nur langsam kann so<br />

Minute um Minute aufgeholt werden. «Das<br />

tägliche Aufziehen habe ich heute grösstenteils<br />

an meine Kinder delegiert», erzählt<br />

er zufrieden. Dennoch werfe er jeden Tag<br />

auf dem Heimweg schnell einen Blick auf<br />

die Uhr, um sicherzugehen, dass Tochter<br />

Martina alles im Griff habe.<br />

Das mit dem Delegieren hat aber so<br />

seine Tücken. Wie an jenem Samstag, als<br />

die Kinder in der Pfadi waren und sich<br />

Markus Marti extra mit grossen Lettern<br />

und dem Lippenstift seiner Frau «Zytglogge»<br />

auf den Badezimmerspiegel schrieb,<br />

damit er das Aufziehen nicht vergesse. Es<br />

ist wohl dem Zufall zuzuschreiben, dass<br />

ausgerechnet an jenem Tag Frau Marti<br />

eine Putzhilfe bestellt hatte, die den verschmutzten<br />

Spiegel reinigte. Der gewissenhafte<br />

Uhrrichter fuhr dann nach einer<br />

unruhigen Nacht in aller Herrgottsfrühe<br />

plötzlich auf, war hellwach und wusste<br />

sofort: «Ach, du liebe Zeit, ich hab die Uhr<br />

vergessen!» Noch in der Dämmerung eilte<br />

er über die Strasse und brachte in Ordnung,<br />

was er angerichtet hatte.<br />

In 20 Jahren blieb die Uhr nur zweimal<br />

stehen. Auf Markus Marti ist eben Verlass.<br />

Nach getaner Arbeit steigt er die Turmtreppe<br />

hinab, dreht den Schlüssel im<br />

Schloss. Bis morgen zur gleichen Zeit.<br />

BETTINA JUNKER<br />

15<br />

CREDIT SUISSE BULLETIN 4 |<strong>99</strong>

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