bull_99_04
Credit Suisse bulletin, 1999/04
Credit Suisse bulletin, 1999/04
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ZEIT<br />
das ist es, was ich mache: All jene sozialen<br />
Handlungen untersuchen, mit denen die<br />
Menschen ihre Zeit strukturieren.» Soviel<br />
zur sozialen Zeitforschung.<br />
Noch 25 Minuten. Der Schreibtisch im<br />
Hintergrund biegt sich unter Bergen von<br />
Büchern und Schriften. Alles soll für eine<br />
halbe Stunde liegen bleiben. Das Telefon<br />
soll klingeln. An der Wand ein paar Bilder,<br />
Postkarten, persönliche Schnipsel. Helga<br />
Nowotny dreht sich um, ihr Blick fällt auf<br />
ein Foto der beiden Enkelkinder. «Sie sind<br />
sicher schon wieder ein Stück grösser geworden,<br />
seit ich sie das letzte Mal gesehen<br />
habe.» Sie wendet sich wieder dem Gespräch<br />
zu: «Meine Güte, wie die Zeit vergeht<br />
!» Die Zeit macht eben auch vor ihrer<br />
Erforscherin keinen Halt. Im Hintergrund<br />
klingelt noch immer das Telefon, bis es endlich<br />
von der Vorzimmerdame erlöst wird.<br />
«Wir brauchen eine neue Zeitkultur»<br />
Noch 20 Minuten. Ein für die Zeitforschung<br />
besonders interessanter Strukturierungsvorgang<br />
sei der Wechsel des Menschen<br />
zwischen Arbeits- und Freizeit, fährt<br />
sie fort. Im Moment fänden da nämlich markante<br />
Verschiebungen statt. «Wir steuern<br />
ungebremst auf eine 24-Stunden-Ökonomie<br />
hin.» Die Entwicklung ist offensichtlich:<br />
Einerseits wollen teure Maschinen rund um<br />
die Uhr bedient sein, andrerseits hat die<br />
Informationstechnologie das 24-Stunden-<br />
Shopping möglich gemacht. «Beide Tendenzen»,<br />
so die Forscherin, «nehmen keine<br />
Rücksicht auf die anderen zeitlichen Bedürfnisse<br />
des Menschen. Die Grenzen<br />
zwischen Arbeits- und Freizeit werden<br />
zunehmend verwischt.»<br />
Halbzeit. «Dazu kommt das Gebot der<br />
totalen Verfügbarkeit», erzählt Nowotny<br />
weiter. Die Leute liessen sich von ihren<br />
Handys, die immer und überall läuten, getrost<br />
knechten. Dennoch: Als neue Geissel<br />
der Menschheit will sie das Natel nicht<br />
sehen. «Es ist ja nicht das Telefon oder der<br />
Telefonbeantworter, der uns Fesseln anlegt.<br />
Letzten Endes ist es unsere freie Entscheidung,<br />
die Geräte zu bedienen oder nicht.»<br />
Es geschieht auch aus freien Stücken,<br />
wenn der Mensch immer intensiver leben<br />
und das Päckchen eines 24-Stunden-<br />
Tages immer dichter füllen und enger<br />
schnüren will. «Lebensintensität heisst in<br />
unserer Kultur: Möglichst viel machen.<br />
Das Gefühl des Mangels an Zeit kommt<br />
erst hinterher – dafür garantiert.<br />
Es bleiben noch zehn Minuten. «Meiner<br />
Ansicht nach», so Nowotny, «haben wir<br />
einfach noch keinen lockeren Umgang mit<br />
Geräten wie Natel oder E-Mail gefunden.<br />
Wir müssen uns eine neue Zeitkultur aneignen<br />
und unsere körperlichen und psychischen<br />
Bedürfnisse ins Zeitmanagement<br />
einbauen.» Ansonsten blühe uns die schiere<br />
Erschöpfung. Denn eins ist sicher: Das<br />
Rad der Geschichte lässt sich nicht zurückdrehen.<br />
Vor allem die Flexibilisierung des<br />
Arbeitslebens treibe die Selbstausbeutung<br />
der Menschen voran. Weil sie im Wirtschaftsleben<br />
bestehen wollten, täten sie<br />
immer häufiger auch Dinge, die für sie<br />
ungesund seien.<br />
Noch fünf Minuten. «Auch für mich selber<br />
ist Zeit ein kostbares Gut. Und auch<br />
ich muss dafür kämpfen, am Wochenende<br />
wenigstens einen freien Tag zu haben»,<br />
sagt sie. Das höchste der Gefühle sei eben,<br />
unstrukturierte Zeit für sich zu schaffen<br />
und sich einen solchen Arbeitstag ohne<br />
Termine dann so einteilen zu können, wie<br />
man es möchte. Und dabei geht es wohl<br />
allen gleich.<br />
Das Gespräch ist zu Ende. Helga Nowotny<br />
steht auf, schüttelt Hände. Doch<br />
bevor sie zur nächsten Verpflichtung eilt,<br />
muss sie unbedingt noch gefragt werden,<br />
was alle Zeitforscher gefragt werden müssen,<br />
nämlich: Was fällt ihnen spontan ein,<br />
wenn sie das Wort «Zeit» hören ? Sie<br />
lächelt und behilft sich mit einem Zitat des<br />
Soziologen Norbert Elias: «Mit der Uhr<br />
ist es wie mit der Maske bei einem Ritual:<br />
Alle wissen, dass dahinter ein Mensch<br />
steckt – und dennoch stehen wir im Bann<br />
der Maske.»<br />
BETTINA JUNKER<br />
CHARLES MÉLA HAT EINE<br />
SCHWÄCHE FÜR DAS<br />
VERGANGENE: SEIN HERZ<br />
SCHLÄGT NÄMLICH<br />
FÜR DAS MITTELALTER.<br />
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CREDIT SUISSE BULLETIN 4 |<strong>99</strong>