22.09.2017 Aufrufe

bull_99_04

Credit Suisse bulletin, 1999/04

Credit Suisse bulletin, 1999/04

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

ZEIT<br />

So weit, so gut. Nichtsdestotrotz: Die<br />

Dichtung des Mittelalters ist nicht jedermanns<br />

Sache. Bevor der Beflissene dieser<br />

Literatur nämlich ans Eingemachte kann,<br />

muss er sich ein ganzes Arsenal an Werkzeugen<br />

aneignen. Mut, Eifer und Wissbegier<br />

haben dabei schon so manchen<br />

bald im Stich gelassen. Die Lust sowieso.<br />

Schliesslich muss erst die Sprache der<br />

damaligen Zeit erlernt werden – und am<br />

besten studiert man gleich noch Geschichte<br />

obendrauf. Denn ein historisches<br />

Wissen im Megaformat ist unabdingbar.<br />

Im Klartext heisst das: Jahrelanges Grundlagenstudium.<br />

Darin inbegriffen ist das<br />

drückende Gefühl der Nutzlosigkeit, und<br />

gratis dazu gibts die permanent quälende<br />

Sinnfrage. Denn während der ganzen Einarbeitungszeit<br />

ist man nicht produktiv,<br />

verdienen tut man schon gar nichts. «Aber<br />

nur auf diese Weise kann langsam eine<br />

Auseinandersetzung mit den Texten stattfinden,<br />

die immer tiefer geht.»<br />

«Die Vergangenheit lebt»<br />

Auch wenn dem modernen Menschen das<br />

Mittelalter wie ein dunkler Fleck auf der<br />

Weste der Menschheitsgeschichte vorkommt<br />

– bewusst ist ihm dabei nicht, wie<br />

viel er dieser Epoche eigentlich verdankt.<br />

«Die Ursprünge unseres modernen Staates<br />

gehen aufs Mittelalter zurück; genauso<br />

der Begriff der «courtoisie». Der Roman<br />

ist ebenfalls eine Erfindung aus dieser<br />

Zeit», erklärt Méla. «Was damals noch die<br />

ersten volkssprachlichen Schriften benannte,<br />

mauserte sich nach und nach zu<br />

einem grossen literarischen Genre.» Ein<br />

weiterer Mosaikstein in der Beweisführung,<br />

dass das Mittelalter unsere Kultur<br />

zutiefst geprägt hat. Selbst in Zeiten<br />

von Krieg und Unsicherheit hätten die<br />

Menschen des Mittelalters nie aufgehört,<br />

nach den Grundlagen für eine wirklich<br />

menschliche Zivilisation zu suchen.<br />

«Das Mittelalter ist also gewissermassen<br />

die Jugend unserer Welt.» Charles<br />

Méla ist stolz auf seinen Satz, der sitzt.<br />

Aber Moment mal: Klammert sich nicht<br />

derjenige an die Jugend, der Angst vor<br />

dem Alter hat ? Anders gefragt: Ist denn<br />

die Beschäftigung mit dem Ewiggestrigen<br />

nicht einfach eine Flucht vor der Gegenwart<br />

? Professor Mélas Widerstand ist<br />

ungebrochen, sein Feuer ist das gleiche wie<br />

vor 40 Jahren: «Meine Arbeit hat nur ein<br />

Ziel: Die Vergangenheit zu erhellen – für<br />

ein besseres Verständnis der Gegenwart.»<br />

Das Vergangene existiere nur über die<br />

Durchs Fenster blickt man auf Bäume<br />

und Wiesen. Auf dem Balkon ein kunterbunter<br />

Berg Teddybären. «Die hat man<br />

mir geschenkt, als ich im Spital war», sagt<br />

Katya Egger. Die Wohnung ist hell und<br />

freundlich. Viele Engelsfiguren. Und überall<br />

blaue Kerzen, die sie auch am Tag anzündet.<br />

Eines ihrer Gedichte beginnt mit<br />

den Worten: «Die Flamme ist wie ein<br />

Mensch – sie lebt und stirbt.» Wenige Zeilen<br />

weiter unten heisst es: «Traurig ist ihr<br />

Ende. Kampf, dass sie nicht sterben will.»<br />

Der Kampf begann vor sieben Jahren<br />

mit der Diagnose Brustkrebs. Später stellte<br />

man noch Geschwulste im Unterleib und im<br />

Kopf fest. Ein endloser Reigen von Operationen<br />

und Chemotherapien nahm seinen<br />

Anfang. Katya Egger, die als allein erziehende<br />

Mutter und Berufsfrau Zupacken<br />

gewohnt war, musste akzeptieren, dass sie<br />

nicht mehr arbeiten konnte, dass ihre Kraft<br />

nachliess, dass die finanzielle Situation der<br />

vierköpfigen Familie schwierig wurde. Sie<br />

musste lernen, mit dem Tod zusammenzuleben.<br />

Sie musste ihre Kinder im Wissen<br />

um das eigene Sterben grossziehen.<br />

«Meinen Kindern zu sagen, dass ich<br />

Krebs habe, war das Allerschlimmste.»<br />

Doch Offenheit war der einzige Weg. Hätte<br />

Gegenwart, solange es Menschen gebe,<br />

die sich mit ihr beschäftigten. Und bis Professor<br />

Méla, seine Schüler und deren<br />

Schüler samt und sonders den allerletzten<br />

Buchdeckel zugeklappt haben, dauerts<br />

noch. Deshalb hat Méla wohl mit seinem<br />

Schlusssatz recht: «Die Vergangenheit ist<br />

ebenso lebendig wie die Gegenwart.»<br />

BETTINA JUNKER<br />

KATYA EGGER HAT KREBS. SIE HOFFT, WENIGSTENS<br />

NOCH SO LANGE ZU LEBEN, BIS IHR SOHN DIE LEHRE<br />

ABGESCHLOSSEN HAT.<br />

sie den Kindern ihren Zustand verheimlicht<br />

– es wäre nicht gegangen. «Wenn<br />

man eine Familie hat, denkt man, man<br />

müsse stark sein. Es dürfe einem nicht<br />

schlecht gehen. Das ist falsch. Alles muss<br />

Platz haben dürfen: Wut, Trauer, Angst,<br />

Schmerz.»<br />

«Ein Team bringt nichts auseinander»<br />

Die Schmerzen brachten sie fast um den<br />

Verstand, bis sie endlich Morphium erhielt.<br />

Durch die Chemotherapie veränderte sie<br />

ihr Aussehen; das zu akzeptieren brauchte<br />

Kraft. Genauso wie sie mit der zunehmenden<br />

Einsamkeit leben lernen musste. Viele<br />

Bekannte waren überfordert und wandten<br />

sich ab. Auch sie selbst zog sich zurück.<br />

Irgendwann lernte sie, das alles anzunehmen.<br />

Blanche und Germaine sind jetzt 25<br />

und 21 Jahre alt, Jean-Claude 18. Die<br />

Töchter stehen auf eigenen Beinen: «Das<br />

macht mich froh», sagt Katya Egger. Die<br />

Krankheit der Mutter hat ihre Jugend überschattet.<br />

Sie mussten schnell erwachsen<br />

werden und lernten zusammenzustehen.<br />

«Die Kinder», lächelt Katya Egger, «sagen<br />

immer, wir seien ein Team. Ein Team kann<br />

nichts auseinanderbringen.»<br />

20<br />

CREDIT SUISSE BULLETIN 4 |<strong>99</strong>

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!