bull_99_04
Credit Suisse bulletin, 1999/04
Credit Suisse bulletin, 1999/04
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ZEIT<br />
So weit, so gut. Nichtsdestotrotz: Die<br />
Dichtung des Mittelalters ist nicht jedermanns<br />
Sache. Bevor der Beflissene dieser<br />
Literatur nämlich ans Eingemachte kann,<br />
muss er sich ein ganzes Arsenal an Werkzeugen<br />
aneignen. Mut, Eifer und Wissbegier<br />
haben dabei schon so manchen<br />
bald im Stich gelassen. Die Lust sowieso.<br />
Schliesslich muss erst die Sprache der<br />
damaligen Zeit erlernt werden – und am<br />
besten studiert man gleich noch Geschichte<br />
obendrauf. Denn ein historisches<br />
Wissen im Megaformat ist unabdingbar.<br />
Im Klartext heisst das: Jahrelanges Grundlagenstudium.<br />
Darin inbegriffen ist das<br />
drückende Gefühl der Nutzlosigkeit, und<br />
gratis dazu gibts die permanent quälende<br />
Sinnfrage. Denn während der ganzen Einarbeitungszeit<br />
ist man nicht produktiv,<br />
verdienen tut man schon gar nichts. «Aber<br />
nur auf diese Weise kann langsam eine<br />
Auseinandersetzung mit den Texten stattfinden,<br />
die immer tiefer geht.»<br />
«Die Vergangenheit lebt»<br />
Auch wenn dem modernen Menschen das<br />
Mittelalter wie ein dunkler Fleck auf der<br />
Weste der Menschheitsgeschichte vorkommt<br />
– bewusst ist ihm dabei nicht, wie<br />
viel er dieser Epoche eigentlich verdankt.<br />
«Die Ursprünge unseres modernen Staates<br />
gehen aufs Mittelalter zurück; genauso<br />
der Begriff der «courtoisie». Der Roman<br />
ist ebenfalls eine Erfindung aus dieser<br />
Zeit», erklärt Méla. «Was damals noch die<br />
ersten volkssprachlichen Schriften benannte,<br />
mauserte sich nach und nach zu<br />
einem grossen literarischen Genre.» Ein<br />
weiterer Mosaikstein in der Beweisführung,<br />
dass das Mittelalter unsere Kultur<br />
zutiefst geprägt hat. Selbst in Zeiten<br />
von Krieg und Unsicherheit hätten die<br />
Menschen des Mittelalters nie aufgehört,<br />
nach den Grundlagen für eine wirklich<br />
menschliche Zivilisation zu suchen.<br />
«Das Mittelalter ist also gewissermassen<br />
die Jugend unserer Welt.» Charles<br />
Méla ist stolz auf seinen Satz, der sitzt.<br />
Aber Moment mal: Klammert sich nicht<br />
derjenige an die Jugend, der Angst vor<br />
dem Alter hat ? Anders gefragt: Ist denn<br />
die Beschäftigung mit dem Ewiggestrigen<br />
nicht einfach eine Flucht vor der Gegenwart<br />
? Professor Mélas Widerstand ist<br />
ungebrochen, sein Feuer ist das gleiche wie<br />
vor 40 Jahren: «Meine Arbeit hat nur ein<br />
Ziel: Die Vergangenheit zu erhellen – für<br />
ein besseres Verständnis der Gegenwart.»<br />
Das Vergangene existiere nur über die<br />
Durchs Fenster blickt man auf Bäume<br />
und Wiesen. Auf dem Balkon ein kunterbunter<br />
Berg Teddybären. «Die hat man<br />
mir geschenkt, als ich im Spital war», sagt<br />
Katya Egger. Die Wohnung ist hell und<br />
freundlich. Viele Engelsfiguren. Und überall<br />
blaue Kerzen, die sie auch am Tag anzündet.<br />
Eines ihrer Gedichte beginnt mit<br />
den Worten: «Die Flamme ist wie ein<br />
Mensch – sie lebt und stirbt.» Wenige Zeilen<br />
weiter unten heisst es: «Traurig ist ihr<br />
Ende. Kampf, dass sie nicht sterben will.»<br />
Der Kampf begann vor sieben Jahren<br />
mit der Diagnose Brustkrebs. Später stellte<br />
man noch Geschwulste im Unterleib und im<br />
Kopf fest. Ein endloser Reigen von Operationen<br />
und Chemotherapien nahm seinen<br />
Anfang. Katya Egger, die als allein erziehende<br />
Mutter und Berufsfrau Zupacken<br />
gewohnt war, musste akzeptieren, dass sie<br />
nicht mehr arbeiten konnte, dass ihre Kraft<br />
nachliess, dass die finanzielle Situation der<br />
vierköpfigen Familie schwierig wurde. Sie<br />
musste lernen, mit dem Tod zusammenzuleben.<br />
Sie musste ihre Kinder im Wissen<br />
um das eigene Sterben grossziehen.<br />
«Meinen Kindern zu sagen, dass ich<br />
Krebs habe, war das Allerschlimmste.»<br />
Doch Offenheit war der einzige Weg. Hätte<br />
Gegenwart, solange es Menschen gebe,<br />
die sich mit ihr beschäftigten. Und bis Professor<br />
Méla, seine Schüler und deren<br />
Schüler samt und sonders den allerletzten<br />
Buchdeckel zugeklappt haben, dauerts<br />
noch. Deshalb hat Méla wohl mit seinem<br />
Schlusssatz recht: «Die Vergangenheit ist<br />
ebenso lebendig wie die Gegenwart.»<br />
BETTINA JUNKER<br />
KATYA EGGER HAT KREBS. SIE HOFFT, WENIGSTENS<br />
NOCH SO LANGE ZU LEBEN, BIS IHR SOHN DIE LEHRE<br />
ABGESCHLOSSEN HAT.<br />
sie den Kindern ihren Zustand verheimlicht<br />
– es wäre nicht gegangen. «Wenn<br />
man eine Familie hat, denkt man, man<br />
müsse stark sein. Es dürfe einem nicht<br />
schlecht gehen. Das ist falsch. Alles muss<br />
Platz haben dürfen: Wut, Trauer, Angst,<br />
Schmerz.»<br />
«Ein Team bringt nichts auseinander»<br />
Die Schmerzen brachten sie fast um den<br />
Verstand, bis sie endlich Morphium erhielt.<br />
Durch die Chemotherapie veränderte sie<br />
ihr Aussehen; das zu akzeptieren brauchte<br />
Kraft. Genauso wie sie mit der zunehmenden<br />
Einsamkeit leben lernen musste. Viele<br />
Bekannte waren überfordert und wandten<br />
sich ab. Auch sie selbst zog sich zurück.<br />
Irgendwann lernte sie, das alles anzunehmen.<br />
Blanche und Germaine sind jetzt 25<br />
und 21 Jahre alt, Jean-Claude 18. Die<br />
Töchter stehen auf eigenen Beinen: «Das<br />
macht mich froh», sagt Katya Egger. Die<br />
Krankheit der Mutter hat ihre Jugend überschattet.<br />
Sie mussten schnell erwachsen<br />
werden und lernten zusammenzustehen.<br />
«Die Kinder», lächelt Katya Egger, «sagen<br />
immer, wir seien ein Team. Ein Team kann<br />
nichts auseinanderbringen.»<br />
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CREDIT SUISSE BULLETIN 4 |<strong>99</strong>