Einflussgrößen auf die Entwicklung empathischen Erlebens und ...

8. Soziokulturelle Einflüsse auf das frühe Hilfeverhalten
amerikanischen Stichprobe die beiden Erwartungen gleichberechtigt nebeneinander zu
bestehen. Aufgrund ihrer Ergebnisse kamen Miller und Bersoff zu dem Schluss, dass
„Indians treated interpersonal responsibilities to friends as public and socially enforceable
rather than as private and discretionary. Rather, the present results suggest that Indians possess
an alternative postconventional moral code in which interpersonal obligations are seen in as
fully principled terms as justice obligations and may be accorded precedence over justice
obligations. The findings also imply that a personal morality of interpersonal responsiveness
and caring is not universal, but may be a phenomenon specific to highly rights-oriented
cultures such as the United States“ (Miller & Bersoff, 1992, S.551).
Die Bewertung fremden Verhaltens und die Verhaltensneigung der indischen Hindus,
die an den verschiedenen Untersuchungen teilnahmen, scheint durch die Maxime determiniert
zu sein, zwischenmenschlichen Verpflichtungen unabhängig vom Schweregrad des
Bedürfnisses und vom Verhältnis zu dem Bedürftigen nachzukommen. Zur Erklärung
verweisen Miller und Kollegen (Miller & Bersoff, 1992, 1994, 1998; Miller et al., 1990) auf
die besondere Rolle, die Interdependenz und wechselseitige Hilfe im Hinduismus spielen.
Ausgangspunkt jeder Moral sei die Gemeinschaft, der jede Person angehört. Die
Verpflichtung, dieser Gemeinschaft durch das Eingehen auf die Bedürfnisse anderer Personen
zu dienen, sei eine fundamentale moralische Verpflichtung. Dieses „dienen“ besteht im
Gehorsam gegenüber sozial höhergestellten Personen und in der Verantwortung gegenüber
sozial niedriger gestellten beziehungsweise abhängigen Personen. Im Gegensatz dazu scheint
der sehr viel engere Geltungsbereich zwischenmenschlicher Verpflichtungen der
amerikanischen Untersuchungsteilnehmer auf die kulturelle Prämisse zurückzuführen sein,
dass das autonome Individuum die kleinste soziale Einheit ist (Dumont, 1965). Diese
Sichtweise drückt sich beispielsweise in dem hohen Stellenwert aus, der Werten wie Freiheit
oder Unabhängigkeit zukommt. Vor diesem normativen Hintergrund wird Hilfeverhalten
aufgrund einer zwischenmenschlichen Verpflichtung entwertet und die freie Entscheidung
zum Helfen idealisiert: Nur wer sich aus freien Stücken zum Hilfeverhalten entscheidet,
handelt wirklich prosozial.
Aus diesen Befunden lässt sich für diese Arbeit der Schluss ableiten, dass das
Hilfeverhalten gegenüber anderen Personen je nach soziokulturellem Kontext in
unterschiedlichem Maße normativ bindend ist. Bei den indischen Hindus, die in diesen
Studien untersucht wurden und die größtenteils der städtischen Mittelschicht entstammten,
schien dem Handeln aufgrund zwischenmenschlicher Verpflichtungen und Verantwortungen
ein sehr hoher Stellenwert zuzukommen. Da es sich bei der Stichprobe der vorliegenden
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