Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2023
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Im Traum laufe ich immer durch die Straßen von Stahlhausen<br />
und Goldhamme. Die Wege sind unendlich, die<br />
Stadt kommt nie zur Ruhe; ein grenzenloses Ballungsgebiet<br />
von Häusern, Farben, Geräuschen und Zeit. Und<br />
Namen: Kohlenstraße Ecke Umweltpark. Die Autobahn<br />
brüllt. Die Geschichte brüllt. Die Wi<strong>der</strong>sprüche prasseln<br />
aufeinan<strong>der</strong> ein, unterbrechen meinen Lauf.<br />
Ein Schleichweg lockt mich vom Gehsteig ins Gestrüpp<br />
unter eine Brücke aus Beton, wo noch alte Schienen liegen.<br />
Weiter hinten ist die Schneise <strong>der</strong> aufgegebenen Güterstrecke<br />
längst asphaltierter Fahrradweg. Die Geräusche<br />
<strong>der</strong> Autos und Züge sind in <strong>der</strong> Senke nur noch dumpf zu<br />
hören, dafür Vögel und Rascheln im Unterholz. Ich folge<br />
einem dieser Fuchs- o<strong>der</strong> Wildschweinwege, geduckt<br />
durch Brombeerranken, lande auf einer verlassenen Zufahrtsstraße<br />
vor einem einzeln stehenden Tor. Der Zaun<br />
darum ist verschwunden, nur Betonpfeiler alle paar Meter<br />
bezeugen seine vergangene Existenz. Ich lasse mich<br />
treiben irgendwo im sogenannten Umweltpark, <strong>der</strong> eher<br />
ein weitläufiges Gewerbegebiet als ein Stadtgarten ist.<br />
Das Areal ist menschenleer. An seinen Grenzen verlaufen<br />
Schienen und die Autobahn. Ich folge dem Lauf eines fast<br />
ausgetrockneten Baches durch einen schmalen Tunnel.<br />
Haus <strong>der</strong> Geschichte des Ruhrgebiets. In meiner Lieblingsbibliothek<br />
forsche ich zur Vergangenheit jener Orte,<br />
durch die ich mich beim Laufen spülen lasse und <strong>der</strong>en<br />
klang volle Namen mich faszinieren. Die Kohlenstraße<br />
hieß früher tatsächlich einmal Brüllstraße. Das Gelände<br />
des heutigen Umweltparks war in den 1940er-Jahren eines<br />
von über 100 »Außenkommandos« des Konzentrationslagers<br />
Buchenwald. Außer einem 2019 errichteten, eher<br />
unscheinbaren Mahnmal an einem <strong>der</strong> zahlreichen Seiteneingänge<br />
des ehemaligen Bochumer Vereinsgeländes<br />
(heute vom Technischen Dienst <strong>der</strong> Stadt Bochum genutzt)<br />
entdecke ich vor Ort keine Spuren aus dieser Zeit,<br />
kein Gedenken. Aber die Geschichte mit all ihren unaushaltbaren<br />
Wi<strong>der</strong>sprüchen bleibt. Sie hat die Gegend wortwörtlich<br />
untergraben.<br />
KGV Bergmannsheil. Am an<strong>der</strong>en Ende des Tunnels entsteige<br />
ich dem Marbach in ein idyllisches Kleingartenparadies.<br />
Auf sonnigen Hängen wächst Gemüse und Salat.<br />
Es ist Samstagnachmittag, Stadiongeräusche hallen durch<br />
das kleine Tal. Trommeln und Trillern, ein Brausen. Jetzt hat<br />
also <strong>der</strong> VfL getroffen. Hinter mir schießt ein ICE durch<br />
die Horizontale. Ich laufe wie<strong>der</strong> auf festem Grund, laufe<br />
auf das große, mo<strong>der</strong>ne Krankenhaus zu, das ebenfalls<br />
Bergmannsheil heißt. »Berchmannsheil« – wie man hier<br />
sagt. Die beinahe ungebrochene Verbundenheit zur Geschichte<br />
des Bergbaus und <strong>der</strong> regionale Stolz auf dieses<br />
Erbe, auf die von Arbeit geschundenen Menschen,<br />
auf die von Maschinen gebeutelte Natur war es, was<br />
mich zuerst in diese Gegend trieb. Nicht nur das großartige<br />
Bergbaumuseum, die ganze Region ist ein Fest für<br />
Nostalgiker, Romantiker und Fans von Novalis, wie ich es<br />
zugegebenerweise bin. Den Symbolen des Raubbaus entkommt<br />
man hier nicht. Auch nicht dem Respekt, welcher<br />
den Proletariern <strong>der</strong> Schächte entgegengebracht wird,<br />
dem Kult, <strong>der</strong> sich bis auf den Fußballplatz ausdehnt,<br />
und <strong>der</strong> Wehmut in den Kneipen und Trinkhallen. Dies<br />
ist eine an<strong>der</strong>e Form des Vernarbens o<strong>der</strong> Verheilens, als<br />
ich sie aus den Revieren von Bitterfeld, Leipzig o<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
Lausitz kenne, wo ich herkomme.<br />
Beim Laufen habe ich genau das richtige Tempo, um<br />
über diese Dinge nachzudenken. Manchmal schreibe ich<br />
etwas auf. Wenn es mir schlecht geht, laufe ich bis zur<br />
Erschöpfung. Und dann: wie<strong>der</strong> zurück. Das Laufen beeinflusst<br />
das Denken, und das Denken erschöpft sich<br />
tatsächlich – irgendwann. Die Schleifen, die ich denke,<br />
lösen sich im Laufen. Sie kriegen mich nicht zu fassen,<br />
sind Schlingen nur, wenn ich es mir erlaube. Auch deshalb<br />
bin ich unterwegs. Beim Laufen lese ich o<strong>der</strong> ich<br />
blicke in Augen, sammelt sich <strong>der</strong> Müll im Rinnstein zur<br />
ersten Zeile eines Gedichts. O<strong>der</strong> zum Abschluss, zur<br />
Mitte. O<strong>der</strong> alles löst sich auf und die Worte verlieren<br />
wie<strong>der</strong> den Sinn. Was ich nicht mag, sind rote Ampeln,<br />
sie bringen mich aus dem Rhythmus.<br />
STEFAN WARTENBERG lebt in Leipzig und schreibt Gedichte und an<strong>der</strong>e Texte. Er ist Mitglied in<br />
den Künstler:innengruppen Graffitimuseum und Jazzstylecorner, mit denen er installativ<br />
und performativ arbeitet. 2021 gründete Wartenberg den Nachtalb Verlag Engelsdorf, welcher<br />
sich Lyrik und befreundeten Textgattungen zuwendet und junge Autor:innen för<strong>der</strong>t.<br />
Foto: Conny Reuter<br />
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