Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2023
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Im sibirischen Gefangenenlager gibt es keine Helden. Ob arm o<strong>der</strong> reich, gebildet o<strong>der</strong><br />
ungebildet, adelig o<strong>der</strong> nicht – hier sind alle gleich und im Grauen ohne Ende vereint.<br />
Fjodor Dostojewski hat es erlebt und in seinen Aufzeichnungen aus einem Totenhaus<br />
minutiös beschrieben. Sie dienten Leoš Janáček als Vorlage zu seiner letzten Oper<br />
(1927/28), die unter dem Motto »In jedem Geschöpf ein Funke Gottes« an unser Mitgefühl<br />
appelliert. Janáček, <strong>der</strong> seine Musik <strong>der</strong> individuellen Sprache <strong>der</strong> Menschen abhorchte,<br />
gibt jedem Insassen seine eigene Stimme, um sie in <strong>der</strong> vielstimmigen Anonymität und<br />
Gleichgültigkeit untergehen zu lassen. Rohe Klänge und beharrliche Rhythmen machen<br />
die Härte <strong>der</strong> Lagerrealität geradezu körperlich spürbar. In den gewaltigen Dimensionen<br />
<strong>der</strong> Jahrhun<strong>der</strong>thalle setzt Starregisseur und Bühnenbildner Dmitri Tcherniakov diese<br />
Idee fort: In einer riesigen begehbaren Bühneninstallation löst er die schützende Trennung<br />
zwischen Künstler:innen und Publikum auf. Wir bewohnen eine erbarmungslose<br />
Gefängniswelt, sind unentrinnbar mitverhaftet mit all den »Schicksallosen«, die hier<br />
eine Existenz als lebendige Tote fristen. Mit ihnen bewegen wir uns durch einen von<br />
würdelosen Raufereien und Saufereien gezeichneten Alltag. Uns, seinen Mitgefangenen,<br />
schil<strong>der</strong>t Luka aus nächster Nähe, wie er aus Rache für dessen Willkür den Major<br />
erstach. Uns erzählt Skuratov, wie er den reicheren Rivalen um die geliebte Luisa erschoss.<br />
Šiškov erzählt uns, wie er aus Eifersucht seiner unschuldigen Braut Akulina die<br />
Kehle durchschnitt. Interessiert uns ihr Leid, ihre Wut, ihre Reue? O<strong>der</strong> kehren wir uns<br />
ab, suchen Distanz zu diesen glücklosen Gescheiterten, beobachten sie aus <strong>der</strong> Ferne?<br />
Wir sind unter ihnen nachts, wenn sie weinen, sind mit ihnen im Lazarett, wenn sie im<br />
Fieber sprechen, wenn sie sterben. Wir schauen uns sogar ihre frivolen Theateraufführungen<br />
an, um den zermürbenden Lagertrott zu unterbrechen. Fühlen wir mit ihnen?<br />
In a Siberian prison camp, there are no heroes. Whether rich or poor, educated or uneducated,<br />
nobles or commoners – everyone is equal here, united in a horror that never<br />
ends. Fyodor Dostoyevsky experienced this himself and described it in precise detail in<br />
his Notes from the House of the Dead. These provided the material for Janáček’s final<br />
opera (1927/28) which appeals to our sympathy on the basis that there is »a spark of God<br />
in every creature.« Janáček, whose music was inspired by listening to individual human<br />
speech, gives each inmate his own voice, only for them to sink into polyphonic anonymity<br />
and indifference. Raw sounds and insistent rhythms make the harsh reality of life in<br />
the camp almost physically tangible. Star director and stage designer Dmitri Tcherniakov<br />
realises this idea in the vast dimensions of the Jahrhun<strong>der</strong>thalle: dissolving the protective<br />
separation between the artists and the audience in a giant, walk-through stage<br />
installation. We inhabit a merciless prison world, inseparably incarcerated with those<br />
whom fate has abandoned, who now mark out an existence as the living dead. Together<br />
with them, we move through daily life that is occupied with undignified brawling and<br />
drinking. Luka tells us, his fellow prisoners, how he stabbed his commanding officer as<br />
revenge for his despotism. Skuratov tells us how he shot a wealthier rival for his beloved<br />
Luisa. Šiškov tells us how he slit his innocent bride Akulina’s throat out of jealousy. Are<br />
we interested in their sorrow, their anger, their regrets? Or do we turn our backs, distance<br />
ourselves from these unfortunate failures, and observe them from afar? We are with<br />
them at night, when they are crying, we are with them in the infirmary when they talk in<br />
a fever, when they are dying. We even watch their frivolous theatre productions to break<br />
up the grinding camp routine. Do we feel empathy for them?<br />
Oper in drei Akten (1927/28)<br />
Libretto<br />
Leoš Janáček nach F. M.<br />
Dostojewskis Aufzeichnungen<br />
aus einem Totenhaus<br />
Musikalische Leitung<br />
Dennis Russell Davies<br />
Regie, Bühne<br />
Dmitri Tcherniakov<br />
Kostüme<br />
Elena Zaytseva<br />
Licht Design<br />
Gleb Filshtinsky<br />
Live Action Director<br />
Ran Arthur Braun<br />
Sound Design<br />
Thomas Wegner<br />
Associate Set Design<br />
Danila Travin<br />
Regieassistenz<br />
Joël Lauwers<br />
Musikalische Studienleitung<br />
Daniel Linton-France<br />
Casting Manager<br />
Boris Ignatov<br />
Dramaturgie<br />
Barbara Eckle<br />
Alexandr Petrovič Gorjančikov<br />
Johan Reuter<br />
Aljeja, ein junger Tatar<br />
Bekhzod Davronov<br />
Šiškov<br />
Leigh Melrose<br />
Luka (Filka Morozov)<br />
Stephan Rügamer<br />
Skuratov<br />
John Daszak<br />
Šapkin<br />
Alexey Dolgov<br />
Der Alte<br />
Neil Shicoff<br />
Čerevin, Fröhlicher Sträfling<br />
Elmar Gilbertsson<br />
Čekunov, Sträfling 1<br />
Stephan Bootz<br />
Bochumer Symphoniker<br />
Chor <strong>der</strong> Janáček-Oper des<br />
Nationaltheaters Brno<br />
Jahrhun<strong>der</strong>thalle Bochum<br />
Do 31. August ___________________ 21.00 Uhr<br />
Sa 2. September_________ 21.00 Uhr<br />
So 3. September_________ 21.00 Uhr<br />
Mi 6. September_________ 21.00 Uhr<br />
Fr 8. September_________ 21.00 Uhr<br />
Sa 9. September_________ 21.00 Uhr<br />
Tickets: 42 €, ermäßigt 12 €<br />
Tschechisch mit deutschen und<br />
englischen Übertiteln<br />
Eine Produktion <strong>der</strong><br />
<strong>Ruhrtriennale</strong><br />
© Mit freundlicher Genehmigung<br />
von Universal Edition AG Wien<br />
Geför<strong>der</strong>t durch die<br />
Kunststiftung NRW<br />
Geför<strong>der</strong>t durch die Alfried<br />
Krupp von Bohlen und<br />
Halbach-Stiftung<br />
Dauer: ca. 90 min<br />
www.ruhr3.com/totenhaus<br />
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