Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2023
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Als Zeitstempel bezeichnet man eine spezielle Form von Signatur, die einem Ereignis einen<br />
exakten Zeitpunkt zuordnet. Wenn man einen Brief verschickt, dient <strong>der</strong> Poststempel <strong>der</strong><br />
Zuordnung zum Zeitpunkt <strong>der</strong> Verschickung. Es gibt auch digitale Zeitstempel, zum Beispiel<br />
jene, die in <strong>der</strong> Fotogalerie den exakten Zeitpunkt <strong>der</strong> Aufnahme angeben.<br />
Zeitstempel haben in gewisser Weise einen objektiven und urteilsfreien Anspruch, sie sind<br />
ein pragmatisches Hilfsmittel. In einer persönlichen Auswahl und Aneinan<strong>der</strong>reihung<br />
ergeben sie jedoch eine Erzählung, die aus einem subjektiven Blickwinkel heraus entsteht.<br />
Der Blickwinkel, aus dem dieser Text entsteht, ist <strong>der</strong> einer Produktionsleiterin und später<br />
Dramaturgin von Jetzt & Jetzt. In meiner persönlichen Auswahl von Zeitstempeln <strong>der</strong><br />
vergangenen zwei Jahre möchte ich ein Bild skizzieren, das von Jetzt & Jetzt erzählt, von<br />
Mats Staub und mehr als hun<strong>der</strong>t Menschen, von Prozessen, von Wachstum und von meinem<br />
eigenen Zeitgefühl.<br />
21/04/02<br />
Meine persönliche Zeitrechnung von Jetzt & Jetzt beginnt<br />
mit einem Anruf von <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong>. Es gehe um eine<br />
neue Arbeit von Mats Staub, für die sie eine Produktionsleitung<br />
suchen. Den Namen hatte ich schon mal gehört,<br />
von den Arbeiten dieses Künstlers auch. Arbeiten, die<br />
über viele Jahre entstehen, die aus Gesprächen und<br />
Portraits mit Menschen allerorts bestehen und die sich<br />
in keine Sparte einordnen lassen. Auch in seiner neuen<br />
Arbeit möchte er ins Gespräch mit Menschen kommen.<br />
Er möchte hun<strong>der</strong>t Menschen im Abstand von zwei Jahren<br />
treffen, mit ihnen über ihre Verän<strong>der</strong>ungen und ihr<br />
Wachstum reden und eine Begegnung von zwei Jetzt-<br />
Zuständen schaffen. Meine Aufgabe würde es sein, hun<strong>der</strong>t<br />
Menschen zu finden, einen für jeden Jahrgang zwischen<br />
8 und 80 Jahren, hun<strong>der</strong>t Termine zu vereinbaren, hun<strong>der</strong>t<br />
Begegnungen im Sommer 2021 stattfinden zu lassen.<br />
21/05/15<br />
Die ersten Testaufnahmen finden in <strong>der</strong> Turbinenhalle<br />
statt und ich fahre zum ersten Mal nach Bochum. Da ich<br />
niemanden kenne, schlafe ich über Airbnb bei einer<br />
Person. Sie wird später die erste Teilnehmerin des Projektes<br />
werden.<br />
Bei den Aufnahmen lerne ich Mats Staub persönlich kennen.<br />
Nach ein paar Telefonaten und Zooms treffen wir uns<br />
in <strong>der</strong> Turbinenhalle. Er ist herzlich und warm, nach kurzer<br />
Zeit habe ich das Gefühl, nicht mehr so nervös sein zu<br />
müssen. Die Turbinenhalle ist wie<strong>der</strong>um kalt und rau. Seit<br />
einer Weile scheint sich die Natur die Halle zurückerobern<br />
zu wollen. Ein paar Tauben haben sich in das Gewölbe <strong>der</strong><br />
Halle eingenistet. Von Zeit zu Zeit hören wir sie flattern und<br />
weichen immer mal wie<strong>der</strong> herunterfallendem Kot aus.<br />
21/06/06<br />
Wir haben einen Open Call erstellt, <strong>der</strong> interessierte Menschen<br />
zwischen 8–80 Jahren einlädt, sich für die Teilnahme<br />
am Projekt anzumelden und auf eine intensive Selbstreflexion<br />
einzulassen. Von Woche zu Woche verschicke<br />
ich unseren Teilnahmeaufruf durch verschiedene Verteiler,<br />
telefoniere, vereinbare Termine und recherchiere, wo<br />
ich noch mehr Menschen erreichen kann. Zur Anmeldung<br />
schicken sie per Mail ein zwei Jahre altes Foto von sich<br />
und eine kurze Beschreibung darüber, wie sie sich seitdem<br />
verän<strong>der</strong>t haben.<br />
21/07/12<br />
Es ist nur noch einen Monat hin bis zum Beginn unserer<br />
Aufnahmen. Von hun<strong>der</strong>t Menschen haben sich erst etwa<br />
die Hälfte gemeldet. Plötzlich ist unser Vorhaben so nah<br />
gerückt, nur fehlen all die Leute, die das Ruhrgebiet zu<br />
dem machen, was es ist.<br />
21/08/01<br />
Ich fahre im vollen Zug ohne Klimaanlage und einem großen<br />
Reiserucksack nach Bochum. Dieses Mal bleibe ich<br />
zwei Monate. Den Sommer über werden alle meine Erwartungen<br />
nach und nach mit Erinnerungen gefüllt werden.<br />
21/08/09<br />
Während <strong>der</strong> vor<strong>der</strong>e Teil <strong>der</strong> Turbinenhalle für die<br />
Insta llation 21 – Erinnerungen ans Erwachsenwerden<br />
tech nisch eingerichtet wird, beziehen wir den Teil hinter<br />
den Turbinen. Unser Technikteam baut kleine schwarze<br />
Kabäuschen auf, in denen die Videos gedreht, Gespräche<br />
geführt und Briefe geschrieben werden. Die Schaltzentrale<br />
wird zum Gewächshaus umfunktioniert, darin hun<strong>der</strong>t<br />
Pflanzen, die von unserer Pressereferentin Stefanie Matjeka<br />
in monatelanger Arbeit in ihrem Garten herangezüchtet<br />
wurden. In <strong>der</strong> Mitte <strong>der</strong> hinteren Turbinenhalle steht ein<br />
großer Holztisch, an dem das Team Platz findet. Weiter<br />
rechts unsere Küchenzeile bestehend aus einem Kühlschrank<br />
und einer Kaffeemaschine.<br />
21/08/15<br />
Mats' künstlerisches Team reist für die Eröffnung von<br />
21 – Erinnerungen ans Erwachsenwerden an. Der vor<strong>der</strong>e<br />
Teil <strong>der</strong> Turbinenhalle ist nun mit Bildschirmen gefüllt,<br />
die vom 21. Lebensjahr unterschiedlichster Menschen erzählen.<br />
Die Aufnahmen für Jetzt & Jetzt werden zwei Tage<br />
später beginnen und Aufregung und Vorfreude liegen in<br />
<strong>der</strong> Luft. Mats zeigt seinem Team den Aufnahmebereich,<br />
als wäre es seine erste eigene Wohnung, die er gerade<br />
frisch bezogen hat.<br />
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