Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2023
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Insignien, mit denen er als Material spielt – und zwar die<br />
aberwitzigsten, absurdesten Spiele. Das Material seines<br />
audiovisuell angelegten Klavierkonzerts (Piano Concerto)<br />
gewinnt er etwa aus dem Video eines Flügels, <strong>der</strong><br />
aus einiger Höhe auf einen Betonboden kracht und zerschellt.<br />
In seiner Black Box Music für Soloschlagzeug,<br />
Video und Ensemble untersucht und dekonstruiert er die<br />
performativen Qualitäten des Puppen theaters und des<br />
Dirigierens zugleich. In seinem TRIO für Orchester, Chor,<br />
Bigband und Video betritt er die monumentale Skala: Auf<br />
einer großen Leinwand über den Klangkörpern spielen<br />
sich Sequenzen von kleinstfragmentiertem, gelooptem<br />
o<strong>der</strong> in schneller Abfolge collagiertem Videomaterial von<br />
Konzert- und Probensituationen <strong>der</strong> drei Klangkörper ab.<br />
Das historische Material stammt aus dem Archiv des Südwestrundfunks.<br />
Und die Live-Musiker:innen, die diesem<br />
Hakenschlagen zu folgen haben, liefern den atemlosen<br />
Soundtrack dazu. Der irre Ritt unterhält, begeistert, belustigt,<br />
fasziniert – wirft in voller Fahrt aber auch Zweifel<br />
auf: Macht sich <strong>der</strong> Komponist lustig über die »Dirigentengötter«<br />
und den verstaubten, pathetischen Gestus<br />
des Musikmachens von damals? O<strong>der</strong> zielt er auf etwas<br />
ganz an<strong>der</strong>es ab? Steen-An<strong>der</strong>sen, so viel wird klar, befragt<br />
den heiligen Ernst, mit dem seit Jahrhun<strong>der</strong>ten<br />
westliche Kunstmusik aufgeführt wird. Doch hinter dem<br />
ikonoklastischen Trieb scheint auch ein Bedürfnis zu stehen,<br />
Musik in ihrer Wahrhaftigkeit von dem verdeckenden<br />
Gewand des bürgerlichen Performance-Habitus zu<br />
befreien. Über den Humor und das Spiel dringt Steen-<br />
An<strong>der</strong>sen zu einer neuen Musik, einer Art Meta-Musik vor,<br />
die sich aus diesem Trümmerhaufen von audiovisuellem<br />
Materialschotter herausschält und sich aus <strong>der</strong> Hektik<br />
des Springens, Schneidens und Montierens wie ein klingen<strong>der</strong><br />
Phoenix aus <strong>der</strong> Asche erhebt.<br />
Die kommunikative Welt von Georges Aperghis<br />
Auch <strong>der</strong> griechisch-französische Komponist Georges<br />
Aperghis hatte als junger Künstler große Zweifel am<br />
konventionellen Musik- und Theaterbetrieb. Anfang<br />
<strong>der</strong> 70er-Jahre feierte er vielbeachtete Erfolge bei allen<br />
berühmten Musiktheaterfestivals in Frankreich, aber<br />
er hatte das Gefühl, Eulen nach Athen zu tragen, seine<br />
Arbeit am falschen Ort zu leisten. Daher stieg er für<br />
etliche Jahre aus diesem Geschäft aus und gründete in<br />
einem von Armut und sozialer Not gezeichneten Pariser<br />
Vorort eine Gruppe für experimentelles Musiktheater,<br />
die sich zum Ziel machte, eine neue künstlerische<br />
Ausdrucksform zu entwickeln, die vom Alltag inspirierte,<br />
soziale Ereignisse in die Welt <strong>der</strong> Poesie überträgt. Die<br />
ersten Bewohner des Vororts, die sich für die Neuankömmlinge<br />
aus Paris interessierten, waren Kin<strong>der</strong>. Und<br />
so begann seine Arbeit mit ihnen. Sie machten spielerische<br />
Improvisationsübungen, erkundeten, wie Sprache,<br />
Klang und Gestik sich zueinan<strong>der</strong> verhalten. Das<br />
Material, mit dem sie spielten, waren die Geschichten<br />
dieser Kin<strong>der</strong>, die größtenteils aus Nordafrika eingewan<strong>der</strong>t<br />
waren, und die von Nachbarschaft und Autolärm<br />
erzählten, von ihrer Heimat und <strong>der</strong> Überfahrt<br />
übers Mittelmeer. Aus Elementen dieser Workshops<br />
generierte Aperghis seine Musiktheatersprache, die er<br />
auch heute noch von dieser Basis aus weiterentwickelt.<br />
IN MEINER MUSIK<br />
GIBT ES ETWAS, DAS MIT<br />
DEM PUBLIKUM,<br />
MIT DEN MUSIKERN<br />
UND AUCH MIT MIR<br />
SPRECHEN WILL.<br />
Obwohl sich Georges Aperghis als Einzelgänger und<br />
Außenseiter bezeichnet, hat er ein so umfassendes<br />
Interesse am Menschen, dass er ihn über sein Werk stellt –<br />
und zugleich in dessen Zentrum. Und dieser Mensch will<br />
kommunizieren: »In meiner Musik gibt es etwas, das mit<br />
dem Publikum, mit den Musikern und auch mit mir sprechen<br />
will«, erklärt Aperghis. »Es ist keine Musik, die aus<br />
himmlischen Sphären kommt. Sie ist auf <strong>der</strong> Erde gemacht,<br />
für die Menschen, und sie erzählt von den Menschen,<br />
von <strong>der</strong> Liebe, von <strong>der</strong> Sprache, vom Körper.«<br />
Auch Instrumente nimmt er wie mitteilsame Menschen<br />
wahr, die mit ihm zu kommunizieren versuchen: »Bei einem<br />
Klavierkonzert von Mozart hat man das Gefühl, das<br />
Klavier spreche mit einem. Jedes Mal sagt es einem etwas<br />
an<strong>der</strong>es, nichts Genaues, aber es ist klar, dass es einem<br />
etwas sagen will, und man versteht es beinahe. Das liebe<br />
ich! Und das würde ich gerne schaffen, aber das schafft<br />
meiner Meinung nach nur Mozart.«<br />
Georges Aperghis behandelt Sprache als reinen Klang,<br />
als musikalisches Ausdrucksmittel jenseits des Inhalts.<br />
Ihn interessiert weniger, was konkret gesagt wird, als wie<br />
es gesagt wird. Es sind die schwer beschreibbaren Nuancen,<br />
die Bände sprechen über einen Menschen und sein<br />
Verhältnis zum Gesagten. Sie verraten etwas über Selbstsicherheit<br />
o<strong>der</strong> Irritierbarkeit, über innere Ruhe, Anspannung<br />
o<strong>der</strong> Zerrissenheit, auch über Charakter, Wahrhaftigkeit<br />
und Leidenschaft. Meist verlässt er die textliche<br />
Logik und zerlegt die Sprache in Silben und Phoneme,<br />
die er wie Töne handhabt. Er bildet daraus sogar eine Art<br />
Melodien, ohne dass zwangsläufig gesungen wird.<br />
Nähe durch Sprache – Leoš Janáček<br />
In Georges Aperghis träfe Leoš Janáček einen geistigen<br />
Verwandten, wenn <strong>der</strong> tschechische Komponist nicht fast<br />
ein Jahrhun<strong>der</strong>t vor Aperghis geboren wäre. Zwar lässt ihre<br />
Musik nicht unmittelbar auf Ähnlichkeit schließen, aber<br />
<strong>der</strong> sprachnahe Gestus ist bei beiden unüberhörbar. Wie<br />
kein an<strong>der</strong>er ist Janáček dafür bekannt, sich in einer einzigartigen<br />
Präzision an <strong>der</strong> menschlichen Sprache – in seinem<br />
Fall <strong>der</strong> tschechischen – zu orientieren; wie Aperghis<br />
geht es ihm dabei weniger um die spezifischen Aussagen<br />
als um die Art und Weise, wie jedes Individuum den Worten<br />
mit seiner Stimme und Verfasstheit klanglich, melodisch,<br />
rhythmisch beim Sprechen Ausdruck verleiht. Zeit seines<br />
Lebens war Janáček geradezu versessen auf die sogenannte<br />
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