28.07.2023 Aufrufe

Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2023

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Insignien, mit denen er als Material spielt – und zwar die<br />

aberwitzigsten, absurdesten Spiele. Das Material seines<br />

audiovisuell angelegten Klavierkonzerts (Piano Concerto)<br />

gewinnt er etwa aus dem Video eines Flügels, <strong>der</strong><br />

aus einiger Höhe auf einen Betonboden kracht und zerschellt.<br />

In seiner Black Box Music für Soloschlagzeug,<br />

Video und Ensemble untersucht und dekonstruiert er die<br />

performativen Qualitäten des Puppen theaters und des<br />

Dirigierens zugleich. In seinem TRIO für Orchester, Chor,<br />

Bigband und Video betritt er die monumentale Skala: Auf<br />

einer großen Leinwand über den Klangkörpern spielen<br />

sich Sequenzen von kleinstfragmentiertem, gelooptem<br />

o<strong>der</strong> in schneller Abfolge collagiertem Videomaterial von<br />

Konzert- und Probensituationen <strong>der</strong> drei Klangkörper ab.<br />

Das historische Material stammt aus dem Archiv des Südwestrundfunks.<br />

Und die Live-Musiker:innen, die diesem<br />

Hakenschlagen zu folgen haben, liefern den atemlosen<br />

Soundtrack dazu. Der irre Ritt unterhält, begeistert, belustigt,<br />

fasziniert – wirft in voller Fahrt aber auch Zweifel<br />

auf: Macht sich <strong>der</strong> Komponist lustig über die »Dirigentengötter«<br />

und den verstaubten, pathetischen Gestus<br />

des Musikmachens von damals? O<strong>der</strong> zielt er auf etwas<br />

ganz an<strong>der</strong>es ab? Steen-An<strong>der</strong>sen, so viel wird klar, befragt<br />

den heiligen Ernst, mit dem seit Jahrhun<strong>der</strong>ten<br />

westliche Kunstmusik aufgeführt wird. Doch hinter dem<br />

ikonoklastischen Trieb scheint auch ein Bedürfnis zu stehen,<br />

Musik in ihrer Wahrhaftigkeit von dem verdeckenden<br />

Gewand des bürgerlichen Performance-Habitus zu<br />

befreien. Über den Humor und das Spiel dringt Steen-<br />

An<strong>der</strong>sen zu einer neuen Musik, einer Art Meta-Musik vor,<br />

die sich aus diesem Trümmerhaufen von audiovisuellem<br />

Materialschotter herausschält und sich aus <strong>der</strong> Hektik<br />

des Springens, Schneidens und Montierens wie ein klingen<strong>der</strong><br />

Phoenix aus <strong>der</strong> Asche erhebt.<br />

Die kommunikative Welt von Georges Aperghis<br />

Auch <strong>der</strong> griechisch-französische Komponist Georges<br />

Aperghis hatte als junger Künstler große Zweifel am<br />

konventionellen Musik- und Theaterbetrieb. Anfang<br />

<strong>der</strong> 70er-Jahre feierte er vielbeachtete Erfolge bei allen<br />

berühmten Musiktheaterfestivals in Frankreich, aber<br />

er hatte das Gefühl, Eulen nach Athen zu tragen, seine<br />

Arbeit am falschen Ort zu leisten. Daher stieg er für<br />

etliche Jahre aus diesem Geschäft aus und gründete in<br />

einem von Armut und sozialer Not gezeichneten Pariser<br />

Vorort eine Gruppe für experimentelles Musiktheater,<br />

die sich zum Ziel machte, eine neue künstlerische<br />

Ausdrucksform zu entwickeln, die vom Alltag inspirierte,<br />

soziale Ereignisse in die Welt <strong>der</strong> Poesie überträgt. Die<br />

ersten Bewohner des Vororts, die sich für die Neuankömmlinge<br />

aus Paris interessierten, waren Kin<strong>der</strong>. Und<br />

so begann seine Arbeit mit ihnen. Sie machten spielerische<br />

Improvisationsübungen, erkundeten, wie Sprache,<br />

Klang und Gestik sich zueinan<strong>der</strong> verhalten. Das<br />

Material, mit dem sie spielten, waren die Geschichten<br />

dieser Kin<strong>der</strong>, die größtenteils aus Nordafrika eingewan<strong>der</strong>t<br />

waren, und die von Nachbarschaft und Autolärm<br />

erzählten, von ihrer Heimat und <strong>der</strong> Überfahrt<br />

übers Mittelmeer. Aus Elementen dieser Workshops<br />

generierte Aperghis seine Musiktheatersprache, die er<br />

auch heute noch von dieser Basis aus weiterentwickelt.<br />

IN MEINER MUSIK<br />

GIBT ES ETWAS, DAS MIT<br />

DEM PUBLIKUM,<br />

MIT DEN MUSIKERN<br />

UND AUCH MIT MIR<br />

SPRECHEN WILL.<br />

Obwohl sich Georges Aperghis als Einzelgänger und<br />

Außenseiter bezeichnet, hat er ein so umfassendes<br />

Interesse am Menschen, dass er ihn über sein Werk stellt –<br />

und zugleich in dessen Zentrum. Und dieser Mensch will<br />

kommunizieren: »In meiner Musik gibt es etwas, das mit<br />

dem Publikum, mit den Musikern und auch mit mir sprechen<br />

will«, erklärt Aperghis. »Es ist keine Musik, die aus<br />

himmlischen Sphären kommt. Sie ist auf <strong>der</strong> Erde gemacht,<br />

für die Menschen, und sie erzählt von den Menschen,<br />

von <strong>der</strong> Liebe, von <strong>der</strong> Sprache, vom Körper.«<br />

Auch Instrumente nimmt er wie mitteilsame Menschen<br />

wahr, die mit ihm zu kommunizieren versuchen: »Bei einem<br />

Klavierkonzert von Mozart hat man das Gefühl, das<br />

Klavier spreche mit einem. Jedes Mal sagt es einem etwas<br />

an<strong>der</strong>es, nichts Genaues, aber es ist klar, dass es einem<br />

etwas sagen will, und man versteht es beinahe. Das liebe<br />

ich! Und das würde ich gerne schaffen, aber das schafft<br />

meiner Meinung nach nur Mozart.«<br />

Georges Aperghis behandelt Sprache als reinen Klang,<br />

als musikalisches Ausdrucksmittel jenseits des Inhalts.<br />

Ihn interessiert weniger, was konkret gesagt wird, als wie<br />

es gesagt wird. Es sind die schwer beschreibbaren Nuancen,<br />

die Bände sprechen über einen Menschen und sein<br />

Verhältnis zum Gesagten. Sie verraten etwas über Selbstsicherheit<br />

o<strong>der</strong> Irritierbarkeit, über innere Ruhe, Anspannung<br />

o<strong>der</strong> Zerrissenheit, auch über Charakter, Wahrhaftigkeit<br />

und Leidenschaft. Meist verlässt er die textliche<br />

Logik und zerlegt die Sprache in Silben und Phoneme,<br />

die er wie Töne handhabt. Er bildet daraus sogar eine Art<br />

Melodien, ohne dass zwangsläufig gesungen wird.<br />

Nähe durch Sprache – Leoš Janáček<br />

In Georges Aperghis träfe Leoš Janáček einen geistigen<br />

Verwandten, wenn <strong>der</strong> tschechische Komponist nicht fast<br />

ein Jahrhun<strong>der</strong>t vor Aperghis geboren wäre. Zwar lässt ihre<br />

Musik nicht unmittelbar auf Ähnlichkeit schließen, aber<br />

<strong>der</strong> sprachnahe Gestus ist bei beiden unüberhörbar. Wie<br />

kein an<strong>der</strong>er ist Janáček dafür bekannt, sich in einer einzigartigen<br />

Präzision an <strong>der</strong> menschlichen Sprache – in seinem<br />

Fall <strong>der</strong> tschechischen – zu orientieren; wie Aperghis<br />

geht es ihm dabei weniger um die spezifischen Aussagen<br />

als um die Art und Weise, wie jedes Individuum den Worten<br />

mit seiner Stimme und Verfasstheit klanglich, melodisch,<br />

rhythmisch beim Sprechen Ausdruck verleiht. Zeit seines<br />

Lebens war Janáček geradezu versessen auf die sogenannte<br />

195

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!