Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2023
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… ja, ob die Generation, <strong>der</strong> dieser Charakter angehört,<br />
auch noch in unsere Tage ragt, obgleich <strong>der</strong> Text mehr<br />
als 150 Jahre alt ist?<br />
NH Absolut. Dieser Mensch, <strong>der</strong> hier spricht, wird<br />
notwendigerweise auftauchen, solange es uns Menschen<br />
noch gibt. Denn die Grundessenz des Textes<br />
thematisiert den Glauben, sich und alles, was einen<br />
umgibt, in den Griff bekommen zu können. Aber wie<br />
es aussieht – und das führt uns die Gegenwart gerade<br />
wie<strong>der</strong> eindrücklich vor Augen –, gelingt dies dem<br />
Menschen nicht. Immer, wenn er denkt, dass er sich<br />
»manierlich« verhält, und meint, alles durchdrungen zu<br />
haben, schießt doch wie<strong>der</strong> ein Begehren quer, etwas<br />
Irrationales, mitunter Zerstörerisches. Sei es auch nur<br />
das, alles kaputtschlagen zu wollen, um es wie<strong>der</strong> aufbauen<br />
zu können. Es bricht sich ein Wollen Bahn, das<br />
keiner Logik folgt. Offenbar geht es dem Menschen<br />
nicht um das Erreichen eines Ziels, son<strong>der</strong>n um das<br />
fortwährende Streben danach.<br />
DER TEXT RÜTTELT<br />
AN GEWISSHEITEN,<br />
IN DENEN ICH<br />
BISHER GANZ GUT<br />
GELEBT HABE.<br />
Der Mensch, heißt es, grenze sich vom Tier ab durch<br />
seinen freien Willen. Dieses freien Willens versichert er<br />
sich durch die Negation. Er kann sich gegen sein eigenes<br />
Interesse, gegen alle Vernunft, gegen die Natur gesetze<br />
stellen. Er macht davon Gebrauch, allein, weil er es kann.<br />
Dies tut auch die hier erzählende Person.<br />
Barbara Frey Das ist das dunkle Zentrum des Textes.<br />
Dostojewskis Protagonist formuliert einen vehementen<br />
Protest gegen das Projekt <strong>der</strong> Aufklärung, das<br />
bis heute unser westliches Selbstverständnis prägt.<br />
Es macht uns vor, dass <strong>der</strong> Mensch sich fortschreitend<br />
zu einem edleren und guten Wesen entwickelt,<br />
wenn er sich denn nur endlich selbst verstanden hat.<br />
Er versteht sich aber nicht und wird sich nie verstehen.<br />
Darin liegt eine tiefe Kränkung. Dieser rätselhaften<br />
Natur des Menschen spüren wir im diesjährigen<br />
Programm <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> nach. Keine Psychoanalyse,<br />
keine kritische Theorie, keine Philosophie und<br />
keine Naturwissenschaft hat uns bisher letztgültigen<br />
Aufschluss darüber geben können. Das benennt die<br />
Ich-Figur in Dostojewskis Text, und wir erleben das<br />
als Provokation. Heiner Müller hat einmal einen Gedanken<br />
Dostojewkis fortsetzend formuliert: Das eigentliche<br />
Problem sei, dass es überall Lösungen gibt.<br />
Wir hätten nicht zu viele Probleme, son<strong>der</strong>n zu viele<br />
Lösungen. Lösungen suggerieren uns ein Wissen, das<br />
wir nicht haben o<strong>der</strong> nutzen, sonst würden wir nicht<br />
unsere eigene Lebensgrundlage zerstören.<br />
Ist das Projekt <strong>der</strong> Aufklärung gescheitert?<br />
NH Können wir das überhaupt denken? Dieser Charakter<br />
ringt zumindest um Wahrhaftigkeit und daher<br />
richtet sich sein vehementer Protest gegen unser<br />
Selbstverständnis, dass alles immer besser wird, dass<br />
man das Schlechte hinter sich lassen kann. Unsere<br />
Rechtsprechung, unser Bildungssystem, unser humanistisches<br />
Weltbild baut darauf auf.<br />
BF Das Projekt <strong>der</strong> Aufklärung steckt als Motor in all<br />
unserem Streben, auch das Vertrauen in die Vernunft,<br />
die Verstandeskraft. Aber das ist ja gerade das Faszinierende<br />
an dem Text. Er fragt, warum denn die Welt so<br />
aussieht, wie sie aussieht. Was gelingt <strong>der</strong> Gesellschaft<br />
nicht? Woran scheitert sie? Wieso wird <strong>der</strong> Mensch<br />
nicht edel? Wieso führen wir noch immer Kriege? Wieso<br />
verhalten wir uns so grausam zueinan<strong>der</strong>? Durch<br />
die Penetranz des Fragens entsteht auch eine Komik,<br />
die mir an diesem Text sehr gefällt und die mich sofort<br />
an Nina Hoss denken ließ. Es braucht einen Kopf wie<br />
sie, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Lage ist, alle Facetten dieses Gedankenstroms<br />
zum Leuchten zu bringen und den Witz darin<br />
aufzuspüren. Nina ist eine große Komikerin. Das mag all<br />
diejenigen überraschen, die sie nur aus den Kinofilmen<br />
kennen. Da spielt sie eher die dunklen, ernsten Rollen.<br />
NH Man verfängt sich tatsächlich in diesem Text wie<br />
in einem Spinnennetz. Das führt zu mancher Situationskomik,<br />
denn aus <strong>der</strong> Verstricktheit, Teil dessen<br />
zu sein, was man da gerade anklagt, führt kein Ausweg.<br />
Da veräußert jemand sein Denken im Moment,<br />
den Prozess, die Abschweifungen, behauptet aber,<br />
alles und jedes Detail vorausgedacht zu haben. Zu<br />
erkennen ist eine große Lust dieser Figur am Formulieren,<br />
die Freude an sprachlicher Schönheit, an <strong>der</strong><br />
Suche nach dem immer noch treffen<strong>der</strong>en Ausdruck.<br />
Das trägt sie mitunter auch aus <strong>der</strong> Spur, führt zu Wi<strong>der</strong>sprüchen.<br />
Dieser Monolog, diese Selbstbefragung<br />
ist sehr vital. Darum empfinde ich den Text nicht als<br />
deprimierend, auch wenn er dem Menschen wenig<br />
Schmeichelhaftes attestiert.<br />
BF Ich empfinde die Figur auch als listig, sie hat<br />
Freude an Täuschungsmanövern, am Spiel, die Sätze<br />
schlagen Haken, verwinkeln sich, entwickeln eine<br />
Freude am künstlerisch-literarischen Ausdruck und an<br />
<strong>der</strong> Behauptungskraft <strong>der</strong> Sprache. Dadurch dass sich<br />
die Figur gegen die Formel 2+2=4 auflehnt, beweist sie<br />
sich, dass sie existiert, sie konstituiert darüber ihr Ich.<br />
Daher lese ich die Aufzeichnungen aus dem Kellerloch<br />
auch als Manifest des Lebenswillens.<br />
NH Letztlich ist dies auch ein Text über die Genese<br />
von Kunst. Wieviel Zweifel müssen ausgeräumt werden,<br />
um in die Tat zu kommen? Am Ende sagt die Figur, die<br />
sich ihrer Untätigkeit bezichtigt, sie mache sich jetzt<br />
ans Schreiben. Darin sieht sie offenbar eine Chance.<br />
Sie bringt ihr Denken in Form. Und darin erkennt man<br />
auch ihre Angewiesenheit auf Begegnung, durch die<br />
sich allein die Form überprüfen lässt. Sie hat sich<br />
– so behauptet sie – bewusst von <strong>der</strong> Gesellschaft<br />
abgekehrt, vom tätigen Leben, zurückgezogen in ein<br />
Kellerloch, aber in dem Versuch, die eigene Klage zu<br />
begreifen, sich selbst gegenüber wahrhaftig zu sein,<br />
liegt eben auch eine Form <strong>der</strong> Tätigkeit.<br />
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