Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2023
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Musik als Kommunikationsmittel reicht in prähistorische<br />
Zeiten zurück. Dabei ist die menschliche Stimme das<br />
älteste aller »Instrumente«, das einzige, das ohne Hilfsmittel<br />
auskommt. In ihr vereint sich das primäre Kommunikationsmittel<br />
des Sprechens und das sekundäre<br />
des Singens – mit o<strong>der</strong> ohne Worte. Obschon mit dem<br />
gesprochenen Wort eine enorme Präzision möglich ist,<br />
gibt es Dimensionen von Vermittelbarem, zu denen keine<br />
Sprache vordringt und die vokal o<strong>der</strong> instrumental erst<br />
vollständig ausleuchtbar sind.<br />
Die ersten Musikinstrumente, die sich <strong>der</strong> Mensch gebaut<br />
hat, sind Trommeln und Flöten. Dazu bedurfte es wenig:<br />
Erste Flöten wurden in <strong>der</strong> Steinzeit aus Vogelknochen<br />
o<strong>der</strong> Mammutelfenbein gefertigt; die erste Trommel, die<br />
sogenannte Erdtrommel, bestand aus einer über eine<br />
Grube gespannten Tierhaut. Mit <strong>der</strong> Zeit tauchte die<br />
Trommel in allen denkbaren Kontexten und Funktionen<br />
auf, vom Warnsignal bis hin zur rituellen Ahnenbeschwörung,<br />
bei <strong>der</strong> mit den Toten kommuniziert wird. Ihr<br />
Spektrum wurde so breit, dass auch die schärfsten Gegensätze<br />
des menschlichen Lebens darin Platz fanden:<br />
<strong>der</strong> wilde Tanz wie das militärische Marschieren.<br />
Schlagzeugmarathon – ein Rundumschlag<br />
Der mo<strong>der</strong>ne Schlagzeugapparat ist uferlos, und seine<br />
Einzelinstrumente entstammen <strong>der</strong> afrikanischen, <strong>der</strong><br />
arabischen, <strong>der</strong> osmanischen, <strong>der</strong> fernöstlichen, <strong>der</strong> südostasiatischen,<br />
<strong>der</strong> mittel- und südamerikanischen und<br />
nur zu einem geringen Anteil auch <strong>der</strong> europäischen Kultur<br />
– eine Tatsache, die in <strong>der</strong> westlichen Kunstmusik die<br />
längste Zeit unreflektiert geblieben ist. Die längste Zeit<br />
fristete das Schlagzeug im Orchester auch eine auf rhythmus-<br />
und akzentgebende Begleitfunktion beschränkte<br />
Existenz. In <strong>der</strong> Kammermusik war es gänzlich inexistent.<br />
Erst im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t wurde nach und nach <strong>der</strong><br />
unerhörte Reichtum seiner Möglichkeiten erkannt. Neue<br />
klangästhetische Visionen <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne involvierten immer<br />
mehr assoziative, geräuschhafte, außermusikalische<br />
Klänge, angefangen mit Kuhglocken, Peitsche und Hammer<br />
in Gustaf Mahlers 6. Sinfonie (1904). Wie sich eine<br />
Atmosphäre klanglich nicht nur vermittelt, son<strong>der</strong>n einen<br />
ganz umhüllen kann, erlebt man auch in Leoš Janáčeks<br />
letzter Oper Aus einem Totenhaus (1927/28). Mit alltäglichen<br />
Werkzeugklängen wie Ketten, Amboss, Axt o<strong>der</strong><br />
Säge definiert Janáček schon in <strong>der</strong> Ouvertüre das von<br />
unablässig harter körperlicher Arbeit geprägte Umfeld<br />
des sibirischen Straflagers. Wie diese Werkzeuge landete<br />
je<strong>der</strong> neue Klangerzeuger, <strong>der</strong> ins Orchester getragen<br />
wurde, bei den Perkussionist:innen. Hier entstand eine<br />
Nahtstelle zwischen Musik und Alltagswelt, ein komplett<br />
heterogener Organismus, <strong>der</strong> alle Musikstile und die ganze<br />
Welt in sich gespeichert hält. Und je mehr das Schlagzeug<br />
ins Licht rückte, umso schneller wuchs das Instrument<br />
und das Repertoire dafür. Mit Fug und Recht spricht<br />
man daher vom »Jahrhun<strong>der</strong>t des Schlagzeugs« – und die<br />
Entwicklung ist nicht abgeschlossen.<br />
Der ungarische Komponist Béla Bartók gehört zu den<br />
ersten, die das Schlagzeug in <strong>der</strong> westlichen Kunstmusik<br />
emanzipieren wollten. In seiner Sonate für zwei Klaviere<br />
und Schlagzeug (1938) setzt er das Schlagzeug mit<br />
dem Klavier auf Augenhöhe, indem er ihre herkömmlichen<br />
Rollen quasi vertauscht: Das Klavier behandelt<br />
er aufgrund seiner Hammertechnik wie ein Schlagzeug,<br />
während er beim Schlagzeug mithilfe von Xylophon und<br />
Pedalpauken das melodische Potenzial hervorhebt,<br />
sodass Klavier und Schlagwerk ebenbürtige melodie-,<br />
klang- und rhythmusgebende Kammermusikpartner sind.<br />
Die Sololiteratur ließ länger auf sich warten. Als man bei<br />
den Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik 1959 den<br />
Instrumentalwettbewerb für Schlagzeug auszuschreiben<br />
plante und dann feststellte, dass es dafür gar keine Solostücke<br />
gab, schrieb Karlheinz Stockhausen kurzerhand<br />
seinen epochalen Zyklus für einen Schlagzeuger Nr. 9 –<br />
ein Titel, <strong>der</strong> wörtlich und bildlich zu verstehen ist: Er<br />
gruppierte die Instrumente nach Material – Holz, Fell,<br />
Metall – und ordnete die Aufstellung <strong>der</strong> Instrumente im<br />
Kreis an, um nahtlose klangliche Abstufungen im Übergang<br />
von einer Gruppe zur an<strong>der</strong>en zu ermöglichen. Zyklus<br />
inspirierte sofort eine Reihe an<strong>der</strong>er Komponist:innen,<br />
Solostücke für Schlagzeug zu schreiben. Der Befreiungsschlag<br />
aus <strong>der</strong> Begleitfunktion war gelungen!<br />
Inzwischen ist das Schlagzeug mehr als nur emanzipiert.<br />
Neben <strong>der</strong> fabelhaften Virtuosität, die Jazz- und<br />
Rockgrößen wie Billy Cobham zu Legenden am Drumset<br />
o<strong>der</strong> einen Musiker wie Mohammad Reza Mortazavi zu<br />
einem Meister <strong>der</strong> persischen Schlaginstrumente Tombak<br />
und Daf gemacht hat, bietet das variable Instrument<br />
allein schon szenisches Potenzial genug für Performances<br />
mit visuellem und choreografischem Wert<br />
(Marilyn Mazur, Camille Emaille u. a.) – manchmal sogar<br />
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