Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2023
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Das ist auch deswegen bemerkenswert, weil genau das<br />
die charakteristischste Eigenschaft von Janáčeks Musik<br />
ist: je<strong>der</strong> einzelnen Figur eine eigene Sprache zu geben –<br />
Sprechmelodien, die er gewöhnlichen Menschen im realen<br />
Leben abgehorcht und direkt in Musik übertragen hat.<br />
Im Totenhaus gibt er den Sträflingen zwar auch ihre eigene<br />
Stimme, aber diese Individuen versinken in Anonymität<br />
und Gleichgültigkeit. Ihre Geschichten werden von ihren<br />
Mitinsassen kaum wahrgenommen, oft werden sie beim<br />
Erzählen auch unterbrochen. Das ist überhaupt ein Merk <br />
mal <strong>der</strong> Musik in dieser Oper: Sie ist stark fragmentiert, es<br />
gibt kaum große Bögen, keinen Fluss, ständige Rhythmuswechsel,<br />
fetzenartige Chorpartien. Es scheint so, als sage<br />
sich Janáček in gleicher Weise vom klassischen Schema<br />
Oper los, wie Dostojewski sich in seinen Aufzeichnungen<br />
aus einem Totenhaus von den gängigen literarischen<br />
Kunstformen lossagt. Weil eben kein probates Kunstgefäß<br />
<strong>der</strong> Wahrheit gerecht wird, die es zu vermitteln gilt.<br />
In unserer Produktion greift nun <strong>der</strong> Regisseur und<br />
Bühnen bildner Dmitri Tcherniakov genau diesen Gedanken<br />
auf und setzt ihn in seiner Inszenierung konsequent im<br />
Raum fort: Er hebt die Trennung <strong>der</strong> Welten auf, lässt<br />
das Publikum nicht von außen auf eine vermeintliche<br />
Gefängnisrealität blicken, son<strong>der</strong>n steckt es mit in das<br />
alcatraz artige Gefängnis, das er in die Jahrhun<strong>der</strong>thalle<br />
hineinbaut, sodass jede:r diese Welt aus <strong>der</strong> Innenperspektive<br />
heraus erlebt.<br />
Das ist eine wun<strong>der</strong>bare Idee, schmerzlich konsequent<br />
gedacht. Sehr spannend!<br />
Er macht das Publikum zu Mitinsassen – und das ist nicht<br />
unbedingt nur bequem. Man ist zwar mittendrin und erlebt<br />
das Geschehen und die Figuren aus unmittelbarer Nähe,<br />
aber man ist auch von Kargheit, Alltagsgewalt und Mikrobekriegungen<br />
umgeben und ist einer Gleichgültigkeit und<br />
Härte ausgesetzt, mit <strong>der</strong> man sonst kaum in Berührung<br />
kommt. Ob man nun vom komfortablen Opernsitzplatz<br />
o<strong>der</strong> aus dieser direkten Konfrontation heraus zu Empathie<br />
angehalten wird, ist ein Unterschied.<br />
WIR SELBST SIND<br />
DIE ANDERE<br />
MÖGLICHKEITSFORM<br />
DES GEGENÜBERS,<br />
UND DAS GEGENÜBER<br />
IST DIE ANDERE<br />
MÖGLICHKEITSFORM<br />
UNSERER SELBST.<br />
Nun ja, die ganze Oper ist unbequem (lacht). Der Regisseur<br />
nimmt also das Publikum beim Wort, als würde er<br />
sagen: »Wenn Ihr diese Oper ernst nehmt, dann müsst<br />
Ihr konsequent sein. Setzt euch ihrer Zumutung aus«.<br />
Wir selbst sind die an<strong>der</strong>e Möglichkeitsform des Gegenübers,<br />
und das Gegenüber, <strong>der</strong> Täter, ist die an<strong>der</strong>e<br />
Möglichkeitsform unserer selbst. Trotzdem hat man als<br />
Zuschauer Privilegien: Man hat die freie Wahl, je<strong>der</strong>zeit<br />
den Ort zu verlassen. Und man kann auf einer Meta-<br />
Ebene darüber reflektieren – allein diese Befähigung ist<br />
schon ein Privileg. Ein schwer milieu-gestörter Gewalttäter<br />
mit Drogenmissbrauch kann das alles nicht. Er ist<br />
in <strong>der</strong> Haft vor allem sich selbst ausgeliefert. Sie können<br />
in <strong>der</strong> JVA nicht sagen: »Ich habe Klaustrophobie, bitte<br />
lassen Sie die Tür auf.« Da ist die JVA das Top-Verhaltenstraining.<br />
Kann man sich dort gleich abgewöhnen.<br />
Unser ganzes Menschsein ist aufgespannt zwischen<br />
dem »Unbequemen« und dem Erhabenen. Das zeigt<br />
diese Oper ja auch, und das ist vielleicht die Quelle aller<br />
Kunst.<br />
→ Das Gespräch können Sie in voller Länger auf <strong>der</strong><br />
Website <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> unter <strong>der</strong> Rubrik Magazin lesen.<br />
DR. MED. NAHLAH SAIMEH ist Forensische Psychiaterin. Von 2000 bis 2004 war sie Chefärztin <strong>der</strong> Forensik<br />
in Bremen und von 2004 bis 2018 Ärztliche Direktorin am LWL-Zentrum für Forensische Psychiatrie<br />
Lippstadt. 2018 machte sie sich als Sachverständige selbständig. Ihr Schwerpunkt liegt in <strong>der</strong> Begutachtung<br />
bei schwerer Gewalt-und Sexualkriminalität. Sie ist Herausgeberin verschiedener Fachbücher und<br />
Autorin von true crime-Büchern und Essays. Mit <strong>der</strong> Gründung <strong>der</strong> ITNS Nachlassverwaltung im Jahr<br />
2018 verwaltet sie das Oeuvre ihres Mannes, des Künstlers Ingolf Timpner (1963–2018). Im Juni <strong>2023</strong><br />
erscheint ihr erster Herausgeberband mit Texten zur Kunst von Ingolf Timpner. BARBARA ECKLE ist Leitende<br />
Dramaturgin für Musiktheater und Konzert <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> 2021–23.<br />
Foto: Ralf Zenker<br />
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