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Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2023

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Man könnte mehrere Geschichten über das Skateboarden<br />

als soziale Praxis erzählen. In diesem kurzen Bericht<br />

möchte ich einige Motive hervorheben, die nach wie vor<br />

eine starke Anziehungskraft ausüben. Ich werde nicht<br />

nur aus <strong>der</strong> Perspektive eines Diskurses sprechen, <strong>der</strong><br />

sich aus <strong>der</strong> reichhaltigen soziologischen Literatur über<br />

diesen Action- o<strong>der</strong> Lifestyle-Sport speist. Ich werde<br />

auch die soziokulturellen, performativen und kinetischen<br />

Aspekte des Skatens in Betracht ziehen, die eine<br />

soziale Choreografie formen könnten – ein Artefakt, das<br />

sich aus <strong>der</strong> Beobachtung des Skateboardens als einer<br />

räumlichen und gemeinschaftlichen Aktivität ableitet.<br />

Es beginnt mit <strong>der</strong> Geschichte, die in den meisten Studien<br />

als Legende erzählt wird: Das Skaten wurde an einem<br />

Tag geboren, als <strong>der</strong> Ozean ruhig und die Wellen niedrig<br />

waren, und ermöglichte es den Surfer:innen, weiterhin<br />

das Gleiten zu üben, wenn auch auf den Bürgersteigen<br />

von Los Angeles. Das eigentümliche Arrangement, den<br />

Körper mit einem Werkzeug zu koppeln, das gleichzeitig<br />

ein Fortbewegungsmittel ist, verdankt seine Erfindung<br />

einer Kreuzung aus dem Scooter mit abgerissenem<br />

T-Griff und dem Surfbrett. Sobald das dritte Element in<br />

<strong>der</strong> Assemblage Board-Körper-Meer zu einer festen Oberfläche<br />

wurde, wurden die Möglichkeiten, die das Skaten<br />

bot, unvorhersehbar und fragmentiert, und <strong>der</strong> materielle<br />

Wi<strong>der</strong>stand seiner Oberfläche war vielfältiger und uneindeutiger<br />

als die Meeresbrandung. Die Herausfor<strong>der</strong>ung<br />

wurde sogar umgekehrt: Anstatt sich mit einer Welle zu<br />

vereinen und daraus Wildheit zu kreieren, erzeugt <strong>der</strong>:die<br />

Skater:in eine Welle, während seine:ihre Bewegung den<br />

urbanen Raum voller unregelmäßiger und skurriler Hin<strong>der</strong>nisse,<br />

aber auch gefährlicher Details glättet.<br />

Darüber hinaus folgt die Kulturgeschichte des Skateboards<br />

über vier bis fünf Jahrzehnte mehreren Wellen<br />

von Aufstieg und Fall. In den 1960er Jahren, als Skateboards<br />

noch Surfbrettern mit Rä<strong>der</strong>n glichen, war es<br />

zunächst bei Surfer:innen beliebt. In den 1970er Jahren<br />

trennte sich das Skaten vom Surfen und hielt Einzug in<br />

die Stadt. Mehrere Innovationen trugen zu seiner Verbreitung<br />

bei. Insbeson<strong>der</strong>e die Entwicklung des schnelleren<br />

und wendigeren Polyurethan-Rads und die Einführung<br />

des hochgezogenen hinteren Endes des Bretts, das<br />

Kickturns ermöglicht. Nachdem die Skater:innen an Geschwindigkeit<br />

und Sicherheit gewonnen hatten, nutzten<br />

sie verlassene Schwimmbä<strong>der</strong>, Entwässerungskanäle<br />

und Schulhöfe für das Skateboarden. Die Skater:innen<br />

dieser Zeit stammten überwiegend aus dem Arbeitermilieu.<br />

O<strong>der</strong> wie einer <strong>der</strong> Z-Boys aus dem berühmten<br />

Zephyr-Team in Dogtown, einem heruntergekommenen<br />

Viertel in Venice, sagte: »Wir kamen aus zerrütteten<br />

Familien.« Als Teil des Mainstream-Repertoires an<br />

Sport- und Freizeitaktivitäten von Jugendlichen trägt das<br />

Skateboarden heute nicht mehr das Zeichen <strong>der</strong> sozialen<br />

Unterschicht. Es verspricht nach wie vor eine zeitweilige<br />

Flucht und ein Gefühl <strong>der</strong> Ermächtigung durch Bewegung<br />

und Geschwindigkeit, wobei die Leidenschaft <strong>der</strong> Einzelnen<br />

auch eine Flucht aus <strong>der</strong> jeweiligen Situation ermöglicht,<br />

sei es zu Hause, in <strong>der</strong> Schule, in seinem Alter, im<br />

Ghetto festzustecken.<br />

Das Eindringen des Skatens in das Privateigentum <strong>der</strong><br />

reichen Bewohner:innen von L.A. führte zu Beschwerden<br />

<strong>der</strong> Bürger:innen und zum Bau von Skateparks, die das<br />

Skateboarden als Freizeitsport in den USA und später in<br />

Europa eindämmen und isolieren sollten. Dies markiert<br />

den Punkt, an dem sich das Skateboarden als soziale Praxis<br />

in das Skaten auf <strong>der</strong> Straße und in Skateparks aufspaltet<br />

– die beiden Praktiken, die heute nebeneinan<strong>der</strong><br />

existieren, sich aber früher in einem Katz-und-Maus-Spiel<br />

zwischen unerlaubtem Betreten und Überwachung abwechselten.<br />

Als Anfang <strong>der</strong> 1980er Jahre die Eintrittspreise<br />

für Skateparks aufgrund <strong>der</strong> Kosten für die aufwendige<br />

Landschaftsarchitektur und die hohen Versicherungsgebühren<br />

stiegen, ging das Skateboarden zurück, aber nur,<br />

um im Untergrund wie<strong>der</strong> aufzuerstehen und die Straße<br />

unter dem Punk-Slogan »Skate and Destroy« (»Skaten<br />

und Zerstören«), <strong>der</strong> sich zum Beispiel im Street-Skateboarding-Magazin<br />

Thrasher (1981) wie<strong>der</strong>fand, heftiger<br />

zurückzuerobern.<br />

WENN SIE DURCH DIE<br />

STRASSEN FAHREN,<br />

SUCHEN SKATER:INNEN<br />

DEN WIDERSTAND<br />

VON OBERFLÄCHEN<br />

UND OBJEKTEN,<br />

UND DIE FREUDE LIEGT<br />

ZWISCHEN<br />

ENTDECKUNG UND<br />

ANPASSUNG.<br />

Der Unterschied zwischen dem Skaten in <strong>der</strong> Stadt und<br />

dem Skaten in einem für Skateboards konzipierten und<br />

ausgewiesenen Park spiegelt mindestens zwei verschiedene<br />

Arten <strong>der</strong> sozialen Produktion des Raums wi<strong>der</strong>.<br />

Wenn sie durch die Straßen fahren, suchen Skater:innen<br />

den Wi<strong>der</strong>stand von Oberflächen und Objekten, und die<br />

Freude liegt zwischen Entdeckung und Anpassung. Indem<br />

sie Gelän<strong>der</strong>, Bänke, Gehwege o<strong>der</strong> Treppen umfunktionieren<br />

o<strong>der</strong> die Plätze von Unternehmen durchqueren,<br />

dringen sie in die Territorien ein und brechen die Regeln<br />

des öffentlichen o<strong>der</strong> durch Eigentum geschützten<br />

Raums. Auch wenn dies nicht immer ein Zeichen bewussten<br />

Wi<strong>der</strong>stands gegen die öffentliche Ordnung ist, wird<br />

es von <strong>der</strong> öffentlichen Meinung als »asoziales Verhalten«<br />

und »rücksichtsloses Handeln« (in den Worten des<br />

republikanischen New Yorker Bürgermeisters Rudolph<br />

Giuliani) verurteilt, das verboten werden muss. Aus <strong>der</strong><br />

Sicht <strong>der</strong> Skater:innen hingegen geht es beim Streetskaten<br />

um das sinnliche Vergnügen, die Stadt durch Gleiten,<br />

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