Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2023
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Im Theater ist es umgekehrt: Tollen Schauspieler:innen<br />
nimmt man dann alles ab, wenn sie am künstlichsten sind.<br />
Das »Echte« ist ja gespielt. Ein Wesensmerkmal <strong>der</strong> Renaissance<br />
war die perfekte Mischung aus Sein und Spiel.<br />
UF Durch die Anwesenheit <strong>der</strong> Kamera ist bei uns im<br />
Grunde auch alles künstlich: Da stehen ja das Team,<br />
die Kamera, manchmal Licht. Es ist eine Art Verabredung.<br />
Es geht darum, vor Ort eine Intensität zu schaffen<br />
und zu erreichen, dass die Menschen trotzdem<br />
absolut bei sich sind.<br />
ML Es ist ja auch die Vorarbeit, das Kennenlernen davor.<br />
Aber man muss die Fragen, die man hat, auch über<br />
den Haufen werfen – und schon gar keine Antworten<br />
erwarten! Das ist <strong>der</strong> Unterschied zum Journalismus.<br />
MS Die Teilnehmenden müssen absolut bei sich bleiben<br />
können. Es geht um Schutz, damit sie sich öffnen<br />
können.<br />
Es geht um die Wahrnehmung des Gegenübers. Wahrnehmung<br />
schafft Augenhöhe und Empathie.<br />
ML Und wirkliches bei<strong>der</strong>seitiges Interesse!<br />
UF Die Geschichte des Cellisten Gregor Piatigorsky,<br />
<strong>der</strong> im Publikum den großen Pablo Casals erblickte:<br />
Der noch unbekannte Piatigorsky war entsetzlich aufgeregt<br />
und hatte am Ende das Gefühl, schlecht gespielt<br />
zu haben. Casals sagte aber nach dem Konzert<br />
zu ihm, er hätte sehr gut gespielt. Piatigorsky empfand<br />
das als falsches Lob und war gekränkt. Jahre später<br />
sprach er Casals darauf an. Der bekräftigte das Lob, da<br />
er ganz genau wahrgenommen hatte, wie an<strong>der</strong>s und<br />
beson<strong>der</strong>s die Fingersätze und <strong>der</strong> Bogenstrich von<br />
Piatigorsky an manchen Stellen gewesen waren. Man<br />
muss ja in jemand an<strong>der</strong>em etwas erkennen können!<br />
Umgekehrt hat je<strong>der</strong> Mensch die Sehnsucht danach,<br />
selbst erkannt zu werden.<br />
MS Es geht um die Zeit, die man sich gegenseitig<br />
widmet: Ich verbringe viel Zeit mit den Menschen. Die<br />
längste Zeit sind sie aber dann gar nicht mehr da, und<br />
ich befasse mich mit dem gesammelten Material.<br />
Diese Menschen bewohnen mich. Jetzt im März treffe<br />
ich hun<strong>der</strong>t Menschen zum zweiten Mal für Jetzt &<br />
Jetzt. Ich muss hun<strong>der</strong>t Zimmer in mir schaffen, wo<br />
sie temporär einziehen. Wenn Porträt und Schnitt<br />
fertig sind, können sie wie<strong>der</strong> ausziehen. Ich kann ja<br />
nicht immer mit ihnen leben!<br />
In euren Arbeiten ist alles »szenisch«, das ist die Nähe zum<br />
Theater, zum Drama. Wie entsteht die Dramaturgie beim<br />
Drehen selbst, also vor <strong>der</strong> Komposition im Schnei<strong>der</strong>aum?<br />
ML Wir lauern bei <strong>der</strong> Dreharbeit auf alles Situative.<br />
UF Interessant sind die Dinge, die nach den eigentlichen<br />
Gesprächen passieren, sozusagen beim Ausatmen:<br />
Da muss man dranbleiben, das ist wertvolles Material!<br />
MS Ich sage meinen Mitarbeitenden immer, sie dürfen<br />
auf keinen Fall die Stopptaste drücken, solange<br />
wir noch im Raum sind. Beim Aufbrechen sagen dann<br />
manche Teilnehmenden plötzlich noch die entscheidenden<br />
Sätze.<br />
Gibt es in eurer Kunst so etwas wie eine Ur-Szene, zu <strong>der</strong><br />
ihr immer wie<strong>der</strong> zurückkehrt?<br />
UF Man arbeitet sich im Grunde immer an einem<br />
Thema ab. Am Filminstitut in Köln, wo ich Studentin<br />
war, sah ich am ersten Tag an die Mauer gesprüht:<br />
JAMMERLAPPEN. Das fand ich grandios. Später wurde<br />
das übertüncht. In meinem ersten Film ging es<br />
dann um Erinnern und Verschwinden, und ich fragte<br />
die Leute, ob sie sich an diese Schrift erinnern könnten.<br />
Kaum jemand konnte es, und ich fühlte mich sehr<br />
einsam. Dann aber kam einer und sagte, er erinnere<br />
sich, da hätte gestanden: JAMA LA LAPP, aber er wisse<br />
nicht, was das bedeute. Als Michael und ich 25 Jahre<br />
später dann zusammen den Opel-Film gemacht haben,<br />
gab es diesen Moment, da nur noch die Schatten<br />
<strong>der</strong> Buchstaben OPEL am Gebäude zu sehen waren,<br />
da man die Schrift mit <strong>der</strong> Schließung des Werks abmontiert<br />
hatte.<br />
ML Im EL-DE-Haus in Köln (benannt nach seinem<br />
Erbauer Leopold Dahmen) war zwischen 1935 und<br />
1945 die Gestapo, im Keller waren die Zellen. Nach<br />
dem Krieg sagte man mit deutscher Gründlichkeit:<br />
Die Inschriften <strong>der</strong> Gefangenen da schön über malen,<br />
im Haus bringt man das Rentenamt unter, und im Keller<br />
kommen die Akten rein. Ich habe einen Film darüber<br />
gemacht, wie sich eine Bürgerinitiative bemüht hat, das<br />
Ganze zu einer Gedenkstätte zu machen. Dann kamen<br />
die Restauratoren, haben im Keller alles abgekratzt –<br />
und man konnte die Inschriften <strong>der</strong> Gefangenen wie<strong>der</strong><br />
lesen. Es geht in unserer Arbeit in vielfältiger Weise<br />
immer ums Verschwinden und Erinnern.<br />
MS Meine Ur-Szene hat mit meiner Großmutter zu tun.<br />
Am Ende ihres Lebens wie<strong>der</strong>holte sie ihre Erzählungen<br />
zunehmend. Aber es kam doch immer wie<strong>der</strong> ein<br />
Detail dazu. Ihr alter zittriger Zeigefinger fuhr in <strong>der</strong> Luft<br />
auf einer imaginären Landkarte um ganz Afrika herum,<br />
das beschrieb ihre Reise, damals in <strong>der</strong> Umrundung<br />
noch billiger als durch den Suez-Kanal, den sie mit<br />
einer schnellen Fingerbewegung markierte. In ihrem<br />
ganzen Körper, beson<strong>der</strong>s in diesem zittrigen Finger,<br />
steckte die gesamte Gegenwart <strong>der</strong> Vergangenheit.<br />
Ich fragte mich: Was ist dran an dieser Geschichte? Ich<br />
habe einen Umweg genommen. Es dauerte 20 Jahre,<br />
bis ich selbst die Reise dorthin unternahm, wo meine<br />
Großmutter gewesen war. Davor habe ich 300 Leute<br />
gefragt, was sie von ihren Großeltern wissen.<br />
Mir wurde dadurch klar, dass ein Porträt von einem<br />
selbst entsteht, wenn man von seinen Großeltern<br />
spricht. Die Frage, um die es letztlich geht, ist: Was ist<br />
eigentlich wichtig für unser Leben?<br />
Fotos: Luise Jakobi (Ulrike Franke und Michael Loeken; Barbara Frey) und Sabrina Weniger (Mats Staub)<br />
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