Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2023
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Ich sehe hier die kathartische Methode <strong>der</strong> Kunst, den<br />
Menschen das Unglück bewusst zu machen und ihnen<br />
ihre Scheinbefriedigungen zu nehmen. Das Kellerloch<br />
im Titel, das du eben erwähntest, bezeichnet sowohl<br />
den randständigen Rückzugsort vor <strong>der</strong> Gesellschaft<br />
als auch das Unbewusste, Verdrängte (auch wenn Freud<br />
erst später auftauchen sollte). Unser Kellerloch befindet<br />
sich auf <strong>der</strong> obersten Ebene <strong>der</strong> Mischanlage auf Zeche<br />
Zollverein. Warum dieser Ort?<br />
WIR STEHEN IN DER<br />
MISCHANLAGE IN<br />
EINEM AUSGETRÄUMTEN<br />
TRAUM<br />
BF Wir ziehen hier in ein Gebäude ein, das seine Bestimmung<br />
verloren hat. Die Räumlichkeiten gibt es nur noch<br />
deshalb, weil sie unter Denkmalschutz gestellt wurden.<br />
Das, wofür sie ursprünglich gebaut wurden, geschieht<br />
dort nicht mehr. Die Sinnentleerung ist körperlich erfahrbar.<br />
In dieses Vakuum stößt <strong>der</strong> Text, <strong>der</strong> die Leere<br />
mit Gedanken füllt. Gedanken, die den positivistischen<br />
Fortschrittsglauben an die Entwicklung <strong>der</strong> Technik, die<br />
Beherrschbarkeit <strong>der</strong> Natur, die Aufklärung des Menschen<br />
schon Mitte des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts infrage gestellt<br />
hatten. Der Text hat recht behalten. Wir stehen in <strong>der</strong><br />
Mischanlage in einem ausgeträumten Traum und werden<br />
gewahr, dass <strong>der</strong> Fortschritt vor allem Zerstörung<br />
bedeutet hat. Mir gefällt natürlich, dass diese Räumlichkeiten<br />
noch zu uns sprechen. Man meint, die Stimmen<br />
<strong>der</strong>er zu hören, die dort gearbeitet und gelitten haben.<br />
Die Vision von damals ist ebenso präsent wie unser heutiges<br />
Bewusstsein, das diese Vision umbewertet. Diese<br />
Reibung ist wertvoll für die Kunst.<br />
NH Kunst vermag die Dinge und den Menschen zu akzeptieren<br />
und zu zeigen, wie sie sind. Sie bewertet nicht,<br />
sucht keine Antworten, sie weist nicht zurecht. Das ist<br />
herausfor<strong>der</strong>nd. Sie zwingt einen, sich selber in die Fratze<br />
zu blicken, schonungslos, ohne Trost. Das for<strong>der</strong>t<br />
das eigene Denken heraus beim Lesen, Zuhören und<br />
Zuschauen. Sie verunsichert produktiv die bequemen<br />
Gewissheiten. Ich empfinde daher diesen Text auch als<br />
ungeheuer befreiend. Da spricht jemand Ungeheuerliches<br />
aus, Enttäuschendes, aber Wahres. Deshalb ist die<br />
Auseinan<strong>der</strong>setzung mit ihm auch so intensiv und treibt<br />
mich gegenwärtig noch in den Wahnsinn.<br />
Die Übersetzerin Swetlana Geier stellte in ihrer jahrzehntelangen<br />
Beschäftigung mit Dostojewski fest, dass bei<br />
ihm kein Wort überflüssig sei, dass je<strong>der</strong> Satz, jede Wie<strong>der</strong>holung,<br />
die Feinnervigkeit <strong>der</strong> Syntax einer brillanten<br />
Rhetorik geschuldet sind. Nina, wie begegnet dir seine<br />
Sprache?<br />
NH Wollüstig! Da hört sich jemand selbst leidenschaftlich<br />
gerne zu, jemand, <strong>der</strong> um seine Fähigkeit<br />
weiß, die Worte so schön zusammenzusetzen. Das ist<br />
natürlich auch sehr theatral.<br />
BF Die Wollust zeigt sich in dem Spaß, immer noch<br />
ein weiteres Argument zu finden gegen das vermeintlich<br />
helle Gebäude <strong>der</strong> Aufklärung. Dieses hatte sich<br />
ja zur Entstehungszeit <strong>der</strong> Aufzeichnungen aus dem<br />
Kellerloch tatsächlich in Gestalt des Kristallpalastes<br />
bei <strong>der</strong> Weltausstellung in London materialisiert.<br />
Gegen diese Vortäuschung <strong>der</strong> Transparenz wütet die<br />
hier sprechende Figur. Ihre Argumentation ließe sich<br />
übrigens ohne weiteres auch gegen die heutigen gläsernen<br />
Konzern- und Parlamentsgebäude anführen.<br />
Sie freut sich daran, schamlos zu übertreiben. Dieses<br />
Wüten ist geradezu manisch. Aber in dem Exzess<br />
steckt <strong>der</strong> Wille zur Kenntlichmachung.<br />
NH Dieser Furor hat auch eine Erotik und Verführungslust,<br />
dem an<strong>der</strong>en sein Spielzeug kaputt zu<br />
machen. In <strong>der</strong> Vehemenz und zuweilen Ungerechtigkeit<br />
findet sich die Komik, aber auch darin, dass hier<br />
jemand behauptet, alles unter Kontrolle zu haben,<br />
während er davon spricht, dass diese Behauptung<br />
<strong>der</strong> Menschheitsirrtum ist.<br />
Die Ich-Figur ist bei Dostojewski eine männliche. Was<br />
wi<strong>der</strong>fährt dem Text, wenn er von einer Frau gesprochen<br />
wird?<br />
BF Mir gefällt die Vorstellung einer weiblichen Stimme<br />
in dieser männlich geprägten Industriekultur,<br />
die Mischung aus <strong>der</strong> klirrenden geistigen Kälte des<br />
Dostojewski-Texts und dem Charme von Nina Hoss.<br />
An einem solchen Ort gehen einem viele Dinge durch<br />
den Kopf, auch sehr düstere. Als Frau nimmt man<br />
womöglich an<strong>der</strong>s wahr, aber – vor allem – man wird<br />
an<strong>der</strong>s wahrgenommen. Das än<strong>der</strong>t aber nichts daran,<br />
dass die hier vorgetragenen Gedanken universell<br />
sind und sich nicht an ein Geschlecht binden.<br />
NH Vielleicht ist es noch immer überraschend, dass<br />
eine Frau so spricht und sich diesen Raum nimmt,<br />
mit scheinbar großer Selbstgewissheit über Grundsätzliches<br />
zu reden. Ich gebe zu, eine solche Haltung<br />
auszuleben, macht auch großen Spaß.<br />
NINA HOSS, geboren 1975 in Stuttgart, ist eine vielfach ausgezeichnete, international tätige Film- und<br />
Theater schauspielerin. Das Gespräch wurde im Februar <strong>2023</strong> geführt, in den Studios am Hansaplatz<br />
in Berlin, in denen die Proben stattfanden. Wenige Tage später wurde auf <strong>der</strong> Berlinale <strong>der</strong> jüngste Film<br />
mit ihr, Todd Fields vielfach preisgekröntes Musikdrama Tár, im Wettbewerb gezeigt. Mit <strong>der</strong> Festivalintendantin<br />
und Regisseurin BARBARA FREY verbindet sie eine langjährige künstlerische Zusammenarbeit,<br />
die 2005 am Deutschen Theater Berlin begann und sich am Schauspielhaus Zürich fortsetzte.<br />
JUDITH GERSTENBERG ist leitende Dramaturgin für Schauspiel, Tanz und Performance an <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong>.<br />
Foto: Pascal Buenning<br />
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