Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2023
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Leoš Janáčeks Oper Aus einem Totenhaus spielt im sibirischen<br />
Gefangenenlager, das Straftäter und politische<br />
Gefangene an einem Ort <strong>der</strong> Demütigung, <strong>der</strong> Gewalt,<br />
<strong>der</strong> Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit versammelt<br />
– eine Schicksalsgemeinschaft <strong>der</strong> »Schicksallosen«<br />
(Imre Kertész). Als Forensische Psychiaterin beschäftigt<br />
sich Dr. Nahlah Saimeh täglich mit Straftätern schwerer<br />
Gewalt- und Sexualdelikte. Im Gespräch mit ihnen ermittelt<br />
sie, wie hoch die Wahrscheinlichkeit einer wie<strong>der</strong>holten<br />
Straftat ist und welcher Grad an Gefahr von<br />
ihnen für die Gesellschaft noch ausgeht. Sie erstellt<br />
Gutachten, auf <strong>der</strong>en Grundlage die Gerichte entscheiden,<br />
ob ein Straftäter in eine Justizvollzugsanstalt o<strong>der</strong><br />
eine Forensische Klinik eingewiesen wird, und über die<br />
Vollzugsdauer von Strafen o<strong>der</strong> Antritt und Ende <strong>der</strong><br />
Sicherungsverwahrung. Barbara Eckle, Leitende Dramaturgin<br />
<strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong>, hat sie getroffen, um über<br />
Janáčeks Oper und <strong>der</strong>en literarische Vorlage, Fjodor<br />
Dostojewskis Aufzeichnungen aus einem Totenhaus zu<br />
sprechen – und um zu erfahren, warum Menschen überhaupt<br />
Straftaten begehen.<br />
Dr. Nahlah Saimeh<br />
Barbara Eckle Frau Dr. Saimeh, sind Dostojewskis Schil<strong>der</strong>ungen<br />
aus dem Strafgefangenenlager in Sibirien um<br />
1855 in irgendeiner Weise vergleichbar mit einer heutigen<br />
Gefängnisrealität?<br />
Nahlah Saimeh Das Beeindruckende an Dostojewskis<br />
Aufzeichnungen aus einem Totenhaus ist für mich<br />
die unfassbare Präzision und Dichte: In jedem Satz<br />
formuliert er etwas über die menschliche Psyche,<br />
über die conditio humana und über menschliche Abgründe,<br />
und das mit einer sprachlichen Schönheit,<br />
die meisterlich ist. Inhaltlich ist das Buch mein tägliches<br />
Leben. Ich würde jeden Satz unterschreiben<br />
und sagen: Ja, genau so ist es. Es gibt für mich auch<br />
keinen Zeitsprung zwischen damals und heute, außer<br />
bei Ausstattung o<strong>der</strong> Technik. Das Gefängnis, das<br />
Dostojewski beschreibt, ist dahingehend mit mo<strong>der</strong>nen<br />
Gefängnissen in Nord- und Mitteleuropa natürlich<br />
nicht vergleichbar, weil Häftlinge heute Anspruch auf<br />
einen Einzelraum und eine eigene Toilette haben. Man<br />
hat kleine Feinheiten geän<strong>der</strong>t, die für den Lebenskomfort<br />
bedeutsam sind, aber das System, in dem<br />
so viele unterschiedliche schwierige Charaktere zusammengebracht<br />
werden und auf eine durchaus destruktive<br />
Weise miteinan<strong>der</strong> umgehen, hat sich nicht<br />
geän<strong>der</strong>t – wie auch die Menschen, die ins Gefängnis<br />
kommen, sich nicht geän<strong>der</strong>t haben. Das kann auch<br />
gar nicht sein, weil <strong>der</strong> Mensch in seiner tragischen<br />
Befähigung zum destruktiven Handeln über die Jahrhun<strong>der</strong>te<br />
hinweg konstant mit den gleichen Problemen<br />
seines Seins geboren wird. Die Menschen im Straflager,<br />
die Dostojewski beschreibt, sind Hochstapler,<br />
Betrüger, Mör<strong>der</strong>. Der eine bringt seinen Major um, <strong>der</strong><br />
an<strong>der</strong>e seine Ehefrau, <strong>der</strong> dritte tötet einen Nebenbuhler.<br />
Sie haben alle klassische Motive. Die hat es zu<br />
Dostojewskis Zeiten gegeben, die hat es in <strong>der</strong> Antike<br />
gegeben, die gibt es heute und die gibt es auch in 150<br />
Jahren noch. Es sind Konstanten des menschlichen<br />
Scheiterns.<br />
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