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Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2023

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Sowohl beim Filmkollektiv loekenfranke als auch in den<br />

Video-Arbeiten von Mats Staub geht es im Grunde um<br />

eine genaue Beobachtung <strong>der</strong> Menschen. Man hat es mit<br />

Porträts zu tun. Menschen erzählen, zeigen sich, zweifeln,<br />

hoffen, kämpfen, machen eine Bestandsaufnahme<br />

ihres Lebens, ihrer Umgebung, <strong>der</strong> Verhältnisse, die sie<br />

geprägt haben und die ihnen bisweilen auch brutale Verän<strong>der</strong>ungen<br />

aufgezwungen haben. Es geht immer auch<br />

um die Frage nach den Möglichkeiten, ökonomischen und<br />

sozialen Zwängen zu trotzen – o<strong>der</strong> aber diese Zwänge<br />

akzeptieren zu müssen, auch oft ausdrücklich gegen die<br />

eigenen Sehnsüchte und Visionen. Was bleibt? Was ist<br />

aus den Sehnsüchten geworden? Was hat man gewinnen<br />

können – und was ist verloren? Kann man überhaupt<br />

Einfluss nehmen auf den schnöden Gang <strong>der</strong> Zeit? Wer<br />

ist eigentlich <strong>der</strong> Autor, die Autorin des eigenen Schicksals?<br />

Indem die Vergangenheit erforscht wird, bekommt<br />

man Aufschluss über die Gegenwart. Und eine fahle<br />

Ahnung dessen, was kommen mag. Warum ist es offenbar<br />

in die Natur des Menschen eingeschrieben, dass<br />

er immer wie<strong>der</strong> auslöschen muss, was er getan hat –<br />

nach angeblich bestem Wissen und Gewissen? Und warum<br />

ist es ebenso klar, dass er sich immer wie<strong>der</strong> erinnern<br />

will, womöglich erinnern muss, an all das, was er lieber<br />

vergessen hätte?<br />

Die Arbeiten von loekenfranke und Mats Staub sind<br />

wohl unter die Kategorie des »Dokumentarischen« einzuordnen<br />

– aber was heißt das? Erzählt das dokumentarische<br />

Filmmaterial von einer an<strong>der</strong>en Wahrheit, als die<br />

Künste es tun? Verlangt man von ihm eine immer neue,<br />

an<strong>der</strong>e, eine sozusagen wahrhaftigere Dimension all <strong>der</strong><br />

Fragestellungen, die die Künste seit jeher beschäftigen?<br />

Wäre die Dokumentation dann gewissermaßen den Künsten<br />

überlegen? Könnte sie gar Antworten geben?<br />

Die Werke von Mats Staub und loekenfranke lösen diesen<br />

scheinbaren Wi<strong>der</strong>spruch auf. Sie sind dokumentarische<br />

wie künstlerische Werke. Sie maßen sich keinen Wahrheitsbegriff<br />

an, mittels dessen man die Menschheit von<br />

ihren Nöten erlösen könnte; sie beanspruchen keinerlei<br />

»Weltverbesserung«.<br />

Eines aber können sie für sich beanspruchen: die Genauigkeit<br />

beim Hinschauen und Hinhören, die Präzision<br />

in <strong>der</strong> Porträtierung von Menschen rund um den Globus<br />

– und das Wissen darum, dass alles, was mit dieser Welt<br />

passiert, sei es im Ruhrgebiet, in an<strong>der</strong>en europäischen<br />

Gegenden o<strong>der</strong> auf an<strong>der</strong>en Kontinenten, menschengemacht<br />

ist, und dass es darum geht, die Fragen zu stellen,<br />

die alle Künste seit Menschengedenken immer gestellt<br />

haben: Was ist Verantwortung? Wie leben wir zusammen?<br />

Wie können wir uns gegenseitig helfen? Was<br />

ist unsere Natur – und was ist die Natur, die uns umgibt?<br />

Wie können wir uns gegenseitig an <strong>der</strong> Zerstörung hin<strong>der</strong>n,<br />

die wir unablässig vorantreiben? Wie können wir die<br />

Grausamkeiten von Liebe und Tod ertragen, wie können<br />

wir aushalten, dass wir in die Welt geworfen sind und<br />

noch immer so wenig über uns wissen?<br />

Die Filmdokumente von loekenfranke und Mats Staub<br />

sind gleichermaßen nüchtern wie tiefsinnig, melancholisch<br />

wie humorvoll, scharf analysierend wie spielerisch.<br />

Das Schöne ist, dass sie sich in keine Kategorie einordnen<br />

lassen.<br />

Sie sind frei.<br />

Barbara Frey<br />

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