Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2023
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Springen und Kicken mit dem eigenen Körper zu erleben,<br />
während die Spuren <strong>der</strong> Beschädigung und <strong>der</strong> Lärm nur<br />
Kollateralschäden sind.<br />
Die Stadt in einen riesigen Spielplatz zu verwandeln, ist<br />
eine Art Nomad:innentum und Deterritorialisierung, eine<br />
durch Geschwindigkeit verstärkte Flânerie; denn <strong>der</strong>:die<br />
Skater:in scannt die Stadt durch die Details, die an<strong>der</strong>e<br />
vielleicht nicht sehen. Ihre Bewegungen sagen: »I can skate<br />
that, if I hit it like that, I can get the buzz out.« (»Das kann<br />
ich skaten. Wenn ich so erwische, gibt es mir den Kick.«)<br />
Wenn man so schnell durch die Stadt fährt, gibt es Momente<br />
<strong>der</strong> aufregenden Orientierungslosigkeit: »Es ist, als<br />
ob man sich in seinem eigenen Song verliert. Wenn ich mit<br />
meinem Skateboard durch die Gegend fahre, brauche ich<br />
nicht einmal Musik; ich kann mit einem Cheeseburger-Lächeln<br />
im Gesicht die Straße entlang schlen<strong>der</strong>n. Du fährst<br />
einfach weiter; ich muss keine Tricks machen. Ich fahre auf<br />
<strong>der</strong> Straße hin und her, und es macht einfach Spaß.« 1<br />
Ursprünglich wurden Skateparks eingerichtet, um Skater:innen<br />
als »eine Kraft, mit <strong>der</strong> man auf <strong>der</strong> Straße rechnen<br />
muss«, an den Rand zu drängen und ihre Macht, die<br />
Regeln für die Nutzung des öffentlichen Raums zu untergraben,<br />
zu bändigen. Gleichzeitig trugen sie dazu bei, das<br />
Skateboarden als subversiven, regelbrechenden Lebensstil<br />
in eine regelgebundene Aktivität, d. h. in einen Sport<br />
zu verwandeln. In einem begrenzten Bereich wie einem<br />
Skatepark konzentrieren sich die Skater:innen mehr auf<br />
Tricks und kontrollierte Stunts. Seit den 1990er Jahren und<br />
erst recht heute, wo Technologie so zugänglich ist, ist das<br />
Filmen und Teilen von Videos »part of the game«. Während<br />
sie als Individuen kommen und gehen, um ihre eigene<br />
Fähigkeit und Performance zu verbessern, bindet die<br />
Nachahmung sie in eine Gemeinschaft ein. Üben bedeutet,<br />
allein zusammen zu sein und an<strong>der</strong>e zu beobachten,<br />
um sich inspirieren zu lassen und das eigene Können auf<br />
eine immer etwas höhere Stufe <strong>der</strong> Virtuosität zu bringen.<br />
Wie auf einem Punk-Konzert, wo das Moshen einem Außenstehenden<br />
als aggressive und gefährliche Anarchie erscheinen<br />
mag, gehen die Skater:innen auch im Skatepark<br />
Risiken ein, koordinieren sich aber auch und schützen sich<br />
gegenseitig vor Verletzungen.<br />
Der Individualismus im Skatepark wird durch die sozialen<br />
Regeln des Ortes gemil<strong>der</strong>t. Ein hervorstechendes Merkmal<br />
des Skateparks ist, dass er einer <strong>der</strong> wenigen städtischen<br />
Orte ist, die Jugendlichen vorbehalten sind. Die<br />
westliche Gesellschaft duldet es nicht, dass sich Jugendliche<br />
im öffentlichen Raum aufhalten, es sei denn, sie treiben<br />
einen Mannschaftssport wie Basketball. Es spricht<br />
also für die beson<strong>der</strong>e Anziehungskraft von Skateparks,<br />
dass es ihnen gelungen ist, ein Pendeln zwischen Ordnung<br />
und Unordnung, Beherrschung und Exzess, Wettbewerb<br />
und Spaß am Leben zu erhalten. In einem Übergangsalter,<br />
das von Konflikten mit Autoritäten und Schamgefühlen<br />
geprägt ist, ist <strong>der</strong> Skatepark eine seltene Oase für die<br />
Selbstdarstellung eines Teenagers, ein Schlachtfeld für<br />
das Erwerben von Selbstvertrauen und sozialem Kapital.<br />
Der Künstler und Skater Raphaël Zarka schrieb, dass<br />
»Skateboarding die Weltanschauung <strong>der</strong>jenigen strukturiert,<br />
die es praktizieren«. 2 Seine Aussage vergleicht<br />
das Skaten stillschweigend mit dem Habitus, <strong>der</strong> nach<br />
<strong>der</strong> Definition von Pierre Bourdieu eine körperliche Disposition<br />
ist, die durch eine Praxis <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>holung und<br />
Nach ahmung erworben wird, und eine Beziehung zwischen<br />
individuellem Handeln und sozialer Struktur darstellt.<br />
Der Habitus strukturiert die Wahrnehmung, die mit<br />
einer sozialen Struktur verwoben ist. Die bewegte Verbindung<br />
von Körper-Board-Oberfläche erzeugt Schwindel,<br />
den Nervenkitzel <strong>der</strong> vorübergehenden Loslösung des<br />
Körpers vom Brett, die mit kontrollierter Anstrengung erfolgen<br />
muss. Mette Ingvartsen beobachtet die kinetische<br />
Kraft und die performativen Stile des Skatens in einem<br />
städtischen Gebiet und nähert sich dem Skatepark als<br />
einem Ort <strong>der</strong> sozialen Choreografie aus <strong>der</strong> Sicht einer<br />
Künstlerin. Die Choreografie hebt hier die kinästhetischen<br />
und akustischen Ausdrucksformen des Skatens<br />
als soziale Formen in <strong>der</strong> Probe hervor und unterstreicht<br />
das kollektive Potenzial von Individuen, die sich in Versuchen<br />
und Fehlern zusammenschließen. Und für die<br />
Zuschauer:innen könnte dies eine Gelegenheit für eine<br />
stellvertretende Erfahrung von Schwindel und sozialer<br />
Ermächtigung sein.<br />
1 Aus einem Interview mit einem Skater, zitiert nach Chihsin Chiu Contestation and Conformity: Street and Park Skateboarding in New York City<br />
Public Space. Raum und Kultur, 2009.<br />
2 Raphaël Zarka. The Forbidden Conjunction. Editions B42 & Raphaël Zarka, 2011.<br />
BOJANA CVEJIĆ’S Forschung umfasst Performance-Theorie, Philosophie und Tanzwissenschaft.<br />
Unter an<strong>der</strong>em ist sie Autorin von Choreographing Problems (2015) und Toward a<br />
Transindividual Self: A Study in Social Dramaturgy (gemeinsam mit Ana Vujanović 2022).<br />
Als Dramaturgin hat sie mit vielen Choreograf:innen und Kollektiven an Performances<br />
und unabhängigen, selbstorganisierten Plattformen für künstlerische Produktion, Theorie<br />
und Bildung in Europa und im ehemaligen Jugoslawien zusammengearbeitet. Sie lebt in<br />
Brüssel, wo sie an <strong>der</strong> P.A.R.T.S. unterrichtet (seit 2002), und Oslo, wo sie Professorin an<br />
<strong>der</strong> National Academy of the Arts ist. Sie ist die Dramaturgin von Skatepark.<br />
Aus dem Englischen von Berno Odo Polzer und Daniela Bershan.<br />
Foto: Bea Borgers<br />
191