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Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2023

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Springen und Kicken mit dem eigenen Körper zu erleben,<br />

während die Spuren <strong>der</strong> Beschädigung und <strong>der</strong> Lärm nur<br />

Kollateralschäden sind.<br />

Die Stadt in einen riesigen Spielplatz zu verwandeln, ist<br />

eine Art Nomad:innentum und Deterritorialisierung, eine<br />

durch Geschwindigkeit verstärkte Flânerie; denn <strong>der</strong>:die<br />

Skater:in scannt die Stadt durch die Details, die an<strong>der</strong>e<br />

vielleicht nicht sehen. Ihre Bewegungen sagen: »I can skate<br />

that, if I hit it like that, I can get the buzz out.« (»Das kann<br />

ich skaten. Wenn ich so erwische, gibt es mir den Kick.«)<br />

Wenn man so schnell durch die Stadt fährt, gibt es Momente<br />

<strong>der</strong> aufregenden Orientierungslosigkeit: »Es ist, als<br />

ob man sich in seinem eigenen Song verliert. Wenn ich mit<br />

meinem Skateboard durch die Gegend fahre, brauche ich<br />

nicht einmal Musik; ich kann mit einem Cheeseburger-Lächeln<br />

im Gesicht die Straße entlang schlen<strong>der</strong>n. Du fährst<br />

einfach weiter; ich muss keine Tricks machen. Ich fahre auf<br />

<strong>der</strong> Straße hin und her, und es macht einfach Spaß.« 1<br />

Ursprünglich wurden Skateparks eingerichtet, um Skater:innen<br />

als »eine Kraft, mit <strong>der</strong> man auf <strong>der</strong> Straße rechnen<br />

muss«, an den Rand zu drängen und ihre Macht, die<br />

Regeln für die Nutzung des öffentlichen Raums zu untergraben,<br />

zu bändigen. Gleichzeitig trugen sie dazu bei, das<br />

Skateboarden als subversiven, regelbrechenden Lebensstil<br />

in eine regelgebundene Aktivität, d. h. in einen Sport<br />

zu verwandeln. In einem begrenzten Bereich wie einem<br />

Skatepark konzentrieren sich die Skater:innen mehr auf<br />

Tricks und kontrollierte Stunts. Seit den 1990er Jahren und<br />

erst recht heute, wo Technologie so zugänglich ist, ist das<br />

Filmen und Teilen von Videos »part of the game«. Während<br />

sie als Individuen kommen und gehen, um ihre eigene<br />

Fähigkeit und Performance zu verbessern, bindet die<br />

Nachahmung sie in eine Gemeinschaft ein. Üben bedeutet,<br />

allein zusammen zu sein und an<strong>der</strong>e zu beobachten,<br />

um sich inspirieren zu lassen und das eigene Können auf<br />

eine immer etwas höhere Stufe <strong>der</strong> Virtuosität zu bringen.<br />

Wie auf einem Punk-Konzert, wo das Moshen einem Außenstehenden<br />

als aggressive und gefährliche Anarchie erscheinen<br />

mag, gehen die Skater:innen auch im Skatepark<br />

Risiken ein, koordinieren sich aber auch und schützen sich<br />

gegenseitig vor Verletzungen.<br />

Der Individualismus im Skatepark wird durch die sozialen<br />

Regeln des Ortes gemil<strong>der</strong>t. Ein hervorstechendes Merkmal<br />

des Skateparks ist, dass er einer <strong>der</strong> wenigen städtischen<br />

Orte ist, die Jugendlichen vorbehalten sind. Die<br />

westliche Gesellschaft duldet es nicht, dass sich Jugendliche<br />

im öffentlichen Raum aufhalten, es sei denn, sie treiben<br />

einen Mannschaftssport wie Basketball. Es spricht<br />

also für die beson<strong>der</strong>e Anziehungskraft von Skateparks,<br />

dass es ihnen gelungen ist, ein Pendeln zwischen Ordnung<br />

und Unordnung, Beherrschung und Exzess, Wettbewerb<br />

und Spaß am Leben zu erhalten. In einem Übergangsalter,<br />

das von Konflikten mit Autoritäten und Schamgefühlen<br />

geprägt ist, ist <strong>der</strong> Skatepark eine seltene Oase für die<br />

Selbstdarstellung eines Teenagers, ein Schlachtfeld für<br />

das Erwerben von Selbstvertrauen und sozialem Kapital.<br />

Der Künstler und Skater Raphaël Zarka schrieb, dass<br />

»Skateboarding die Weltanschauung <strong>der</strong>jenigen strukturiert,<br />

die es praktizieren«. 2 Seine Aussage vergleicht<br />

das Skaten stillschweigend mit dem Habitus, <strong>der</strong> nach<br />

<strong>der</strong> Definition von Pierre Bourdieu eine körperliche Disposition<br />

ist, die durch eine Praxis <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>holung und<br />

Nach ahmung erworben wird, und eine Beziehung zwischen<br />

individuellem Handeln und sozialer Struktur darstellt.<br />

Der Habitus strukturiert die Wahrnehmung, die mit<br />

einer sozialen Struktur verwoben ist. Die bewegte Verbindung<br />

von Körper-Board-Oberfläche erzeugt Schwindel,<br />

den Nervenkitzel <strong>der</strong> vorübergehenden Loslösung des<br />

Körpers vom Brett, die mit kontrollierter Anstrengung erfolgen<br />

muss. Mette Ingvartsen beobachtet die kinetische<br />

Kraft und die performativen Stile des Skatens in einem<br />

städtischen Gebiet und nähert sich dem Skatepark als<br />

einem Ort <strong>der</strong> sozialen Choreografie aus <strong>der</strong> Sicht einer<br />

Künstlerin. Die Choreografie hebt hier die kinästhetischen<br />

und akustischen Ausdrucksformen des Skatens<br />

als soziale Formen in <strong>der</strong> Probe hervor und unterstreicht<br />

das kollektive Potenzial von Individuen, die sich in Versuchen<br />

und Fehlern zusammenschließen. Und für die<br />

Zuschauer:innen könnte dies eine Gelegenheit für eine<br />

stellvertretende Erfahrung von Schwindel und sozialer<br />

Ermächtigung sein.<br />

1 Aus einem Interview mit einem Skater, zitiert nach Chihsin Chiu Contestation and Conformity: Street and Park Skateboarding in New York City<br />

Public Space. Raum und Kultur, 2009.<br />

2 Raphaël Zarka. The Forbidden Conjunction. Editions B42 & Raphaël Zarka, 2011.<br />

BOJANA CVEJIĆ’S Forschung umfasst Performance-Theorie, Philosophie und Tanzwissenschaft.<br />

Unter an<strong>der</strong>em ist sie Autorin von Choreographing Problems (2015) und Toward a<br />

Transindividual Self: A Study in Social Dramaturgy (gemeinsam mit Ana Vujanović 2022).<br />

Als Dramaturgin hat sie mit vielen Choreograf:innen und Kollektiven an Performances<br />

und unabhängigen, selbstorganisierten Plattformen für künstlerische Produktion, Theorie<br />

und Bildung in Europa und im ehemaligen Jugoslawien zusammengearbeitet. Sie lebt in<br />

Brüssel, wo sie an <strong>der</strong> P.A.R.T.S. unterrichtet (seit 2002), und Oslo, wo sie Professorin an<br />

<strong>der</strong> National Academy of the Arts ist. Sie ist die Dramaturgin von Skatepark.<br />

Aus dem Englischen von Berno Odo Polzer und Daniela Bershan.<br />

Foto: Bea Borgers<br />

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