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Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2023

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Auch Ihr Instrumentarium zeugt von diesem Spielerischen:<br />

Das reiche Schlagwerk ist bestückt mit Melodica,<br />

Kin<strong>der</strong>flöten, Lockvögeln, singenden Sägen, Hämmern,<br />

Sirenen, Glasflaschen, um nur einige wenige zu nennen.<br />

Ich arbeite viel mit Geräuschen, aber hier sind es vor<br />

allem zwei Dinge, die ich zu finden versucht habe:<br />

Zum einen, wie ich mir das Geräusch fallen<strong>der</strong> Tropfen<br />

vorstelle. Zum an<strong>der</strong>n, wie und was man im Dunkeln<br />

hört. Das sind zwei Dinge, die am Ursprung meiner<br />

kompositorischen Arbeit lagen, die ich dann natürlich<br />

bearbeitet und verstärkt habe. Und ich habe Klänge<br />

aus Materialien gesucht, die den Werkzeugen <strong>der</strong><br />

Bergleute ähnlich sind. So gibt es Hämmer o<strong>der</strong> eben<br />

Alarmsirenen. Und ich habe versucht, den Instrumenten<br />

– Schlagzeug, Kontrabass und Trompete – Klänge<br />

zu entlocken, welche die Arbeitsgeräusche in <strong>der</strong><br />

Mine musikalisch umsetzen.<br />

In einem Gedicht von Jean-Christophe Bailly heißt es:<br />

»Das Dunkel <strong>der</strong> Nacht mit dem Glanz <strong>der</strong> Sterne ist wie<br />

das Abbild des Dunkels <strong>der</strong> Erde, wo viele unsichtbare<br />

kleine Glanzpunkte darauf warten, von uns gesehen zu<br />

werden.« Was bedeutet Ihnen dieser Bezug <strong>der</strong> Tiefe, <strong>der</strong><br />

Dunkelheit unter <strong>der</strong> Erde zum uns umgebenden All?<br />

Dieses Bild gefällt mir sehr. Was man in <strong>der</strong> Tiefe <strong>der</strong><br />

Erde findet, ist letztendlich <strong>der</strong> Himmel, denn je tiefer<br />

man geht, desto reiner wird es. Es geht in Die Erdfabrik<br />

auch immer um Gegensätze, um das Verbinden extremer<br />

Pole: Licht und Dunkelheit, das Gewichtige und<br />

das Leichte, das Kleine und das Große, das Ernste und<br />

das Spiel. Denn wenn man wirklich in die Tiefe geht,<br />

ins Dunkle, und es immer hoffnungsloser zu werden<br />

scheint, gibt es immer noch das Kind in uns, das zurückkommt<br />

und sagt: Gut, lass uns wie<strong>der</strong> aufwachen,<br />

lass uns aufstehen und weiterspielen. Auch dies ist<br />

eine Art zu sagen – wie Jean-Christophe es ausdrückt –,<br />

dass, je tiefer man in die Erde geht, desto näher man<br />

dem Himmel kommt. Je tiefer man in die Traurigkeit<br />

sinkt, desto mehr Humor kann man haben, den man<br />

braucht, um zu überleben. Und so nähert man sich<br />

dem Himmel, indem man <strong>der</strong> Erde auf den Grund geht.<br />

Und da sind wir wie<strong>der</strong> bei <strong>der</strong> Kohle als dem »Kind<br />

des Lichts«, <strong>der</strong> Einsicht, dass die Kohle nichts an<strong>der</strong>es<br />

ist als die Vegetation längst vergangener Epochen,<br />

dass sie aus den Pflanzen jener entlegenen Zeit besteht,<br />

die von <strong>der</strong> Sonne genährt worden sind.<br />

Auch die Schlaflosigkeit, das Eintauchen in die Stille,<br />

das Unheimliche <strong>der</strong> uns umgebenden Dunkelheit spielt<br />

in Die Erdfabrik eine wichtige Rolle.<br />

Im Prinzip könnte man das ganze Stück eine Schlaflosigkeit<br />

nennen. Es geht um die Dinge, die einem<br />

durch den Kopf gehen, wenn man nicht schläft o<strong>der</strong><br />

vor sich hindöst. Es gibt dabei Momente, die angenehm<br />

sind, und dann gibt es Momente, in denen es<br />

ziemlich beängstigend werden kann. Man realisiert,<br />

dass im Dunkeln alles ganz an<strong>der</strong>s wird. Auch in <strong>der</strong><br />

Stille, in <strong>der</strong> wir nicht über die gleiche Wahrnehmung<br />

verfügen. Wir hören an<strong>der</strong>e Dinge in <strong>der</strong> Stille. Und das<br />

Erstaunliche ist, dass mir Jean-Christophe genau von<br />

diesem Erlebnis erzählt hat, das er hatte, als er in eine<br />

Mine hinabgestiegen war. Von dieser absoluten Stille,<br />

die dennoch nicht wie Stille ist, und von <strong>der</strong> Dunkelheit.<br />

Und so habe ich versucht, mir dies vorzustellen.<br />

Denn wir sind an eine Dunkelheit gewöhnt, die kein<br />

Schwarz ist, in <strong>der</strong> es immer irgendwo etwas gibt, das<br />

leuchtet. Das absolute Schwarz ist kaum zu finden,<br />

ebenso wenig wie die absolute Stille. Das letzte Mal,<br />

als ich diese erlebt habe, war im IRCAM (Institut de<br />

recherche et coordination acoustique/musique in Paris),<br />

wo es einen Raum gibt, in dem einfach nichts ist.<br />

Und da fängt man an, sich selbst zu hören, zu hören,<br />

wie <strong>der</strong> eigene Körper funktioniert. Es ist für mich eine<br />

Art Maschinenmusik mit Maschinen, die organisch<br />

sind. Das ist, woran ich arbeiten wollte.<br />

ES IST DAS PUBLIKUM,<br />

DAS ZUR ERZÄHLUNG<br />

WIRD, DENN ES MACHT<br />

GESCHICHTEN.<br />

Seit <strong>der</strong> Gründung Ihrer Theatergruppe Atelier Théâtre<br />

et Musique (ATEM) in den 1970er-Jahren im Pariser Vorort<br />

Bagnolet wurden Sie zur prägenden Figur im Bereich<br />

<strong>der</strong> Entwicklung des zeitgenössischen Musiktheaters.<br />

Das »théâtre musical« kann dabei als Gegenentwurf<br />

zur Oper gesehen werden. Ein poetisches, experimentelles<br />

musikalisches Theater, in welchem Musiker:innen,<br />

Sänger:innen, Schauspieler:innen und bildende Künstler:innen<br />

zusammenkommen, zum Zweck <strong>der</strong> kollaborativen<br />

Kreation neuer Musiktheaterformen.<br />

Ja, es handelt sich um ein abstraktes, poetisches<br />

Musiktheater, das verschiedene Akteure zusammenbringt.<br />

Es geht mir dabei weniger darum, ein Gegenstück<br />

zur Oper zu finden, parallel habe ich auch<br />

Opern komponiert. Meine Herangehensweise ist vielmehr,<br />

jede Komponente des Musiktheaters zu isolieren.<br />

Zum Beispiel den Text zu isolieren, das Licht,<br />

die Bil<strong>der</strong>, die Klänge, die alle nicht das Gleiche erzählen.<br />

Das bedeutet, dass sie frei sind. Was mich<br />

dazu bringt, Musik zu schreiben, sind die vielen Möglichkeiten,<br />

diese Fragmente zusammenzubringen,<br />

übereinan<strong>der</strong>zulegen o<strong>der</strong> nebeneinan<strong>der</strong>zustellen.<br />

Fragmente, die zunächst nichts miteinan<strong>der</strong> zu tun<br />

haben. Meine Arbeit besteht darin, Verbindungen zu<br />

schaffen, aber keine Übergänge! Es sind vielmehr<br />

Brüche o<strong>der</strong> Konflikte o<strong>der</strong> ein Spiel zwischen den<br />

Dingen, ein Hin und Her, um zu einer Konstruktion<br />

zu kommen, die ich nicht kenne, die ich nie erwartet<br />

hätte und die ich hören möchte. Und so kann eine Art<br />

Polyphonie verschiedener Texte, verschiedener Musik<br />

etc. entstehen. In <strong>der</strong> Oper gibt es einen Text, eine<br />

Theater situation, es gibt Figuren und eine Geschichte,<br />

die erzählt werden will. Und wenn die Oper fertig<br />

komponiert ist, kommt <strong>der</strong> Regisseur o<strong>der</strong> die Regisseurin<br />

hinzu, um diese Geschichte auf die Bühne zu<br />

bringen. Im »théâtre musical« hingegen gibt es ein<br />

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