Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2023
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mitfühlt und mitfiebert – was für eine Oper ungewöhnlich<br />
ist. Aber <strong>der</strong> Grund ist klar: Das Individuum hat in<br />
<strong>der</strong> Gefängniswelt keinen Stellenwert. Die zermürbende<br />
Deindividualisierung beschreibt auch Dostojewski<br />
in seinen Aufzeichnungen. Mit Namen lernen wir drei<br />
Sträflinge kennen, die in größeren Monologen erzählen,<br />
wie es zu ihrer Straftat kam, und sofort blicken wir an<strong>der</strong>s<br />
auf diese Figuren. Skuratov schil<strong>der</strong>t etwa, wie er<br />
den Bräutigam seiner großen Liebe Luisa erschossen<br />
hat, weil er diese Frau wirklich liebte und sie ihn. Aber<br />
dann kam ein reicherer Anwärter und bot ihr das komfortablere<br />
Leben – und Luisa hat es genommen. Was<br />
war an <strong>der</strong> Quelle dieses Mordes? Liebe – und eine verständlicherweise<br />
unfassbare Enttäuschung.<br />
WENN WIR GEBOREN<br />
WERDEN, TRETEN WIR<br />
IN EINE EXISTENZFORM<br />
EIN, IN DER WIR<br />
UNS VON DER WELT<br />
INSGESAMT ALS<br />
GETRENNT ERLEBEN.<br />
Das ist ein sehr schönes Motiv, so funktioniert es<br />
auch in <strong>der</strong> Realität. In diesem Fall ist es eine beson<strong>der</strong>s<br />
tragische Entscheidung <strong>der</strong> Frau, den reicheren<br />
Bräutigam zu wählen. Es fällt dem Leser also leichter,<br />
sich mit den Gefühlen von Skuratov zu identifizieren.<br />
Skuratovs Narrativ für die Tat hat allerdings einen<br />
Fehler. Er geht von <strong>der</strong> tiefen Liebe Luisas aus, aber<br />
Luisa verrät diese Liebe. Also ist es keine. Eine tiefe,<br />
existentielle Form von Liebe ist nicht korrumpierbar.<br />
Der für mich wesentliche Punkt ist – und das liegt<br />
außerhalb des Fachgebietes <strong>der</strong> forensischen Psychiatrie:<br />
Wenn wir geboren werden, treten wir in eine<br />
Existenzform ein, in <strong>der</strong> wir uns von <strong>der</strong> Welt insgesamt<br />
als getrennt erleben. Wir erleben unsere eigene<br />
Existenz als ein Getrenntsein von etwas. Und aus diesem<br />
Schmerz des Getrenntseins resultiert eine große<br />
Kraft, die in zwei Richtungen gehen kann: in Richtung<br />
Destruktivität o<strong>der</strong> in Richtung Konstruktivität. Also<br />
alles beson<strong>der</strong>s Wertvolle, Ehrenvolle, Selbstlose, fast<br />
übermenschlich Gute (Typus Mutter Teresa), stammt<br />
aus dem unbedingten Willen, dieses Getrenntsein zu<br />
überwinden und diesen Schmerz zu verarbeiten. Der<br />
gleiche Schmerz kann aber auch zum Entschluss zu<br />
etwas Zerstörerischem führen. Hier fließt die Energie<br />
in den Hass. Die Quelle ist aber die gleiche Not. Das<br />
ist die Tragik des Menschseins. Und im Gefängnis zeigt<br />
sich diese Tragik beson<strong>der</strong>s deutlich.<br />
Mo<strong>der</strong>ne Haftbedingungen sind zwar nicht vergleichbar<br />
mit Zwangsarbeitslagern im zaristischen Russland o<strong>der</strong><br />
den sowjetischen Gulags o<strong>der</strong> gar mit den Konzentrationslagern<br />
des NS-Regimes, aber <strong>der</strong> ungarische Schriftsteller<br />
Imre Kertész, <strong>der</strong> zwei Konzentrationslager überlebt hat,<br />
ist <strong>der</strong> Meinung, was man dort erlebt, sei nicht in Literatur<br />
als Kunstform festzuhalten. Sein explizites Vorbild ist<br />
Dostojewski, <strong>der</strong> für seine Aufzeichnungen aus einem<br />
Totenhaus eine quasi nicht-literarische Form gewählt hat,<br />
also nicht den Roman, son<strong>der</strong>n ein vielstimmiges Nebeneinan<strong>der</strong><br />
gleichwertiger Schicksale, ein unsystematisches<br />
Gewebe ohne Handlung, das keine klassischen literarischen<br />
Formstandards erfüllt, keiner dramatischen Dynamik<br />
folgt – und dadurch <strong>der</strong> Situation, wie sie wirklich war,<br />
bedeutend näher kommt. Können Sie diese Ablehnung<br />
einer »Verkunstung« solcher Erfahrungen nachvollziehen?<br />
Ja, das kann ich. Ich verbringe extrem viel Zeit mit<br />
menschlichem Elend, und das ist auch <strong>der</strong> Grund,<br />
warum ich – und da stehe ich dazu – seit Jahren keine<br />
Romane mehr lese, weil ich mit so vielen realen Biografien<br />
und menschlichen Schicksalen arbeite, was<br />
ich auch gerne tue. Aber dazu will ich keine narrative,<br />
sekundäre Überformung haben. Ich brauche keine<br />
kunstvoll erzählten Schicksale. Aber Dostojewskis<br />
Aufzeichnungen aus einem Totenhaus fallen auch für<br />
mich in eine ganz an<strong>der</strong>e Kategorie. Es ist ein Fass<br />
ohne Boden, ein philosophisches Werk eigentlich. Und<br />
zugleich für mich <strong>der</strong> ständige Blick in den Alltagsspiegel.<br />
Das hat mich tief beeindruckt.<br />
Sympathien und Antipathien sind in Dostojewskis Aufzeichnungen<br />
aus einem Totenhaus kein Thema – ganz<br />
an<strong>der</strong>s als in einem Roman, wo sich Sympathien und<br />
Antipathien für die Figuren bilden und sich im Laufe <strong>der</strong><br />
Geschichte meist auch verän<strong>der</strong>n. Mit diesen Dynamiken<br />
operieren und kalkulieren Schriftsteller:innen in <strong>der</strong> Regel.<br />
Genau. Sie steuern die Emotionen des Lesers. Aber<br />
hier ist es an<strong>der</strong>s: Der Leser wird komplett auf sich<br />
selbst zurückgeworfen, weil Dostojewski neutral bleibt.<br />
Er beschreibt hier zum Beispiel in wenigen knappen<br />
Sätzen einen Sadisten, wie er kleine Kin<strong>der</strong> quälte und<br />
sich an ihren Qualen und ihrer Angst weidete, bis er<br />
sie dann schlachtete. Und er beschreibt das genauso,<br />
wie er eine Frau beschreiben würde, die an einem<br />
Rosenstrauch mit einer Heckenschere Rosen abschneidet<br />
und in eine Vase stellt. Ich glaube, dass es<br />
dieses Unterschiedslose ist, das Janáček zu diesem<br />
Satz »In jedem Geschöpf ein Funke Gottes« veranlasst<br />
hat. Es ist das, was letzten Endes auf eine Dimension<br />
zusammenfällt, wenn wir den besagten Dualismus<br />
überwunden haben. Aber die Kraft unseres alltäglichen<br />
Lebens kommt aus dem Dualismus. Insofern liegt<br />
in <strong>der</strong> Kraft des Konstruktiven eben genauso die Kraft<br />
des Destruktiven. Das ist nicht voneinan<strong>der</strong> zu trennen.<br />
Und ein Roman o<strong>der</strong> eine Oper entsteht normalerweise<br />
auch aus dieser Polarität. Da werden Emotionen,<br />
Charaktere, Sympathien und Antipathien erzeugt und<br />
gegeneinan<strong>der</strong> geführt. Das Publikum will sich identifizieren.<br />
Aber in Janáčeks Oper Aus einem Toten haus wie<br />
in Dostojewskis Aufzeichnungen aus einem Totenhaus<br />
verschwindet diese Identifizierbarkeit.<br />
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