Wand. Und wie<strong>der</strong>: Ohrfeige, Kappe, Rückkehr. Und wie<strong>der</strong>, und immer wie<strong>der</strong> – aber es ist beharrlich. Seine automatisierten Gesten sind die einer Konsistenz, die durch eine Verlassenheit gestört wird, und die intakt geblieben ist, weil sie noch nicht erarbeitet werden konnte. Seine Macht kommt von den eingebrochenen und durchdringenden Markierungen, die nie an Sinnsequenzen gebunden sind, <strong>der</strong>er sich <strong>der</strong> Geist bemächtigen könnte, die ganz im Gegenteil dem Eigensinn <strong>der</strong> Entstellungen ausgeliefert sind. Im Stück bekommen sie allmählich ein Gesicht und eine Stimme: eine Angst einflößende Puppe, die auf dem Rücksitz des Autos kichert. Der Bru<strong>der</strong> und die Schwester geben sich dabei eine gemeinsame bildliche Vorstellung des Inzests – bis sie ihn vollständig in das Verständliche und Sagbare zurückgeführt haben. Felix nennt sie Frankie. Aus Clara kommt ihre Stimme: anfangs die Stimme aus dem Zeichentrickfilm, den sie als Kin<strong>der</strong> zusammen schauten. Und nach und nach nimmt Frankie Gestalt an – eine in sich wi<strong>der</strong>sprüchliche: Zur süßen Stimme gesellt sich ein grinsendes Gesicht – bis zur finalen Auflösung in eine schrille und allgemeine Grausamkeit. Felix brüllt, um sie zum Schweigen zu bringen. Immer spricht sie durch Clara. Diese abscheuliche Puppe ist das Beharren <strong>der</strong> Erinnerung – und umso ungeheuerlicher, weil sie ohne passende Benennung bleibt. Wie lässt sich die Wie<strong>der</strong>holung in eine Verschiebung verwandeln? Gisèle Vienne führt die Form – Musik, Licht und Tanz – für diesen Weg vor, <strong>der</strong> aus Verän<strong>der</strong>ungen des physischen und psychischen Zustands besteht. Eine Durchquerung: von <strong>der</strong> Nacht ohne Anhaltspunkte bis zur Bildung neuer Verankerungen, die einzig den Eintritt in die Kriegsbereitschaft ermöglichen. Die Wie<strong>der</strong>eröffnung <strong>der</strong> Möglichkeit, affektiert zu sein – das Heraustreten aus den abschwächenden Fixierungen –, ist ein Hochgefühl. Es zeigt sich in <strong>der</strong> Bewegungsfreiheit, die die <strong>der</strong> Selbstzerstörung entrissenen Körper allmählich wie<strong>der</strong>gewinnen. Konsistent zu existieren ist nur durch die an<strong>der</strong>en und mit ihnen möglich. Man kann aus dem Albtraum herauskommen, aber nicht aus dem Menschsein, <strong>der</strong> condition humaine. Genauer gesagt: Aus dem Albtraum wird man nur durch das richtig verstandene Menschsein herauskommen. Man braucht eine Untergruppe, von <strong>der</strong> aus man die Erfahrung, die ohne ein symbolisches Raster für ihre Erfassung nicht angeeignet werden kann und sich in eine Heimsuchung verwandelt, angemessen benennen kann. WENN MAN NICHT DIE RICHTIGEN ANDEREN HAT, MUSS MAN ANDERE ANDERE FINDEN. Wenn man nicht die richtigen An<strong>der</strong>en hat, muss man an<strong>der</strong>e An<strong>der</strong>e finden. Frankie taucht dort auf, wo <strong>der</strong> soziale Körper ausweicht: ein sogenanntes Tabu, um das herum die Gesellschaft in Wahrheit unsagbare Kompromisse schließt. Gewöhnlich spiegeln die an<strong>der</strong>en die symbolische Ordnung – das, was sie sagt o<strong>der</strong> nicht sagt, das, was sie klarstellt o<strong>der</strong> verwirrt. Hier können die Gewöhnlich-An<strong>der</strong>en keinen Halt bieten: Sie tragen nur dazu bei, dass man tief in die Vorhölle absinkt. Aber es gibt immer noch Enklaven im sozialen Körper, Subräume, die die Bedeutungsabgrenzungen, die vom Kollektiv stabilisiert werden, nicht anerkennen. Bereiche, in denen sich Kollektive an<strong>der</strong>s gebildet und die Linien <strong>der</strong> Sinngebung an<strong>der</strong>s gezogen haben. Das sind die an<strong>der</strong>en An<strong>der</strong>en: die guten Bekanntschaften, mit und von denen aus man die unsichtbaren Trennwände nie<strong>der</strong> reißen und die Bewegung zurückbringen kann. SANDRA LUCBERT, geboren 1981 in Paris, studierte an <strong>der</strong> École normale supérieure und erlangte dort die Agregation in mo<strong>der</strong>ner Literatur. Sie absolvierte einen Master in psychoanaly tischen Studien in Paris VII. Ihre literarische Arbeit kreist um die Frage, wie Institutionen uns an Ort und Stelle halten – und unter ihnen insbeson<strong>der</strong>e die des Kapitalismus. Denn <strong>der</strong> Kapitalismus hält die Kontrolle nicht nur durch Gewalt, politischen und wirtschaftlichen Zwang aufrecht, er hält uns auch fest, indem er zu Impulsen aufruft, und dank imaginärer und sprachlicher Arbeit dessen, was Gramsci »Hegemonie« nennt. Als Grundlage für diesen Text besuchte Sandra Lucbert, eine Weggefährtin von Gisèle Vienne, eine szenische Probe von EXTRA LIFE. Aus dem Französischen von Clément Fradin Foto: Andrea Montano 167
SLASHING ANTICIPATIONS TAMARA SAPHIR ÜBER DEN ZUSAMMENHANG ZWISCHEN TANZPROBEN UND SLASHERFILMEN THE VISITORS Tanz ab 9. September <strong>2023</strong> Siehe S. 50 _______________ www.ruhr3.com/visitors 168