28.07.2023 Aufrufe

Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2023

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Thema, das ich von unterschiedlichen Seiten zu beleuchten,<br />

über das ich verschiedene Geschichten zu<br />

erzählen versuche. Hier ist es die Mine, davor hatte<br />

ich etwas über Roboter gemacht, o<strong>der</strong> einen Abend<br />

über Überwachung und Kontrolle. Das sind alles Themen,<br />

um die ich mich dann drehe. Doch alles, was<br />

Musik, Klang o<strong>der</strong> Video betrifft, ist am Anfang unabhängig.<br />

Jedes Ding hat sein eigenes Leben. Daraus<br />

versuche ich, eine Vielstimmigkeit zu erzeugen. Es ist<br />

also etwas völlig an<strong>der</strong>es, als eine lineare Geschichte<br />

zu erzählen. Und letztlich ist es das Publikum, das<br />

zur Erzählung wird, denn es macht die Geschichten.<br />

Ich gebe nur die Elemente vor. Oft erzählen mir<br />

Leute nach einer Vorstellung, dass sie an demselben<br />

Abend ganz unterschiedliche Dinge erlebt haben.<br />

Das macht mich sehr glücklich.<br />

Sie selber haben Ihr Schaffen einmal als »faire musique<br />

de tout« (Musik aus allem machen) bezeichnet. Was verstehen<br />

Sie darunter?<br />

Das ist keine Erfindung von mir. Es ist die Idee, dass<br />

Musik auch eine visuelle Komponente hat. Das heißt,<br />

dass Gesten – wenn sie in einer musikalischen Zeit<br />

stehen – selber zu Musik werden, und dass schließlich<br />

alles, was sich innerhalb dieser Zeit befindet,<br />

zu Musik werden kann. Das ist wie im Theater, wenn<br />

man eine theatrale Zeit einrichtet. Und für mich steht<br />

das Theater immer auch in einer musikalischen Zeit,<br />

einer Zeit, in die man Ereignisse eintragen kann. Musiker:innen<br />

o<strong>der</strong> Sänger:innen o<strong>der</strong> Schauspieler:innen<br />

können für eine kurze Zeit zu einer Figur werden,<br />

auch nur für ein paar Sekunden. Und dann machen<br />

sie etwas an<strong>der</strong>es, weil die Musik ihnen das vorgibt.<br />

Es geht nicht nur darum, das Instrument zu spielen,<br />

es ist <strong>der</strong> ganze Körper, <strong>der</strong> involviert ist, die Verhaltensweisen.<br />

Sprache und Körper, Kommunikation<br />

und Interaktion bilden den Fokus. Man könnte sagen,<br />

dass es wie ein Puzzle ist, dass man unterschiedliche<br />

Momente wahrnimmt, dass zum Beispiel <strong>der</strong> Trompeter<br />

schließlich auf eine etwas verschwommene Art<br />

und Weise doch zu einer Figur geworden ist, ohne<br />

dass man genau wüsste, zu welcher. Man hat eine<br />

Idee, konkreter als gedacht, aber man kann es nicht<br />

definieren. Es ist nicht nur <strong>der</strong> schöne Klang, <strong>der</strong> die<br />

Musik ausmacht.<br />

Mit <strong>der</strong> Gleichstellung von Musik, Sprache, Gestik und<br />

Mimik öffnet sich Ihnen ein ganzes Forschungsfeld. Ihre<br />

Stücke integrieren vokale, instrumentale, narrative und<br />

szenische Elemente in einen einzigen Ausdrucksrahmen.<br />

Das Musizieren selber wird zur szenischen Aktion. Wie<br />

entwickeln Sie eine solche Produktion? Ist auch dies ein<br />

kollektiver Prozess?<br />

Meistens fange ich alleine an, um zu sehen, wohin die<br />

Reise geht. Dann habe ich gesehen, dass die Zeichnungen,<br />

die Jeanne Apergis anfertigt, sehr gut mit<br />

<strong>der</strong> Welt funktionieren könnten, die ich mir vorstellte,<br />

und eine Distanz zu einem konkreteren Theaterspiel<br />

schaffen. Ich habe ihr also davon erzählt und sie<br />

hat ein paar Versuche gemacht. Das läuft dann alles<br />

parallel. Ich habe angefangen zu schreiben und gleichzeitig<br />

mit Daniel Lévy über die Beleuchtung gesprochen<br />

und mit Nina Bonardi über die Bühne. Und so<br />

kommt alles zusammen, man trifft sich bei mir zu<br />

Hause und arbeitet gemeinsam weiter. Jérôme Truncer<br />

ist für das Video dazugekommen. Und natürlich war<br />

Jean-Christophe Bailly von Anfang an dabei. Nach und<br />

nach fügen sich dann all diese Aspekte zusammen,<br />

während ich die Musik schreibe.<br />

Mit dem WEGE-Projekt lässt sich im Rahmen <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong><br />

die Vielfalt des Ruhrgebiets erwan<strong>der</strong>n und erfahren.<br />

An <strong>der</strong> letztjährigen <strong>Ruhrtriennale</strong> hat <strong>der</strong> südamerikanische<br />

Künstler Lisandro Rodriguez den Weg<br />

zum Landschaftspark mit Fragen bepflastert über das<br />

Verhältnis von Kunst und Bergbau, über Verhältnisse von<br />

Macht und Natur. In seinem Projekt El Extranjero sah er<br />

sich als einen Fremden, <strong>der</strong> Fragen stellt, um zu verstehen.<br />

Eine dieser Fragen lautete: »Ist Kunst <strong>der</strong> neue Bergbau?«<br />

Oft denke ich, dass die tägliche Arbeit des Künstlers<br />

darin besteht, jeden Morgen in die Mine hinabzusteigen,<br />

um Material nach oben zu schaffen. Jeden<br />

Morgen nimmt man die Arbeit erneut auf, fragt sich,<br />

was passieren, was dabei herauskommen wird. Es ist<br />

natürlich nicht so hart und gefährlich wie in <strong>der</strong> Mine,<br />

sozial gesehen hat es nichts damit zu tun. Aber es ist<br />

<strong>der</strong> Grund des Schachtes, in den man hinabsteigen<br />

muss. Es ist auf jeden Fall eine Metapher für Konzentration,<br />

für den Versuch, in sich zu gehen, um Dinge zu<br />

hören. Ohne sich zu betrügen, ohne zu lügen.<br />

Der griechisch-französische Komponist GEORGES APERGHIS ist eine <strong>der</strong> prägendsten Figuren<br />

im Bereich des zeitgenössischen Musiktheaters. In den 1970er-Jahren gründete<br />

er in <strong>der</strong> Pariser Banlieue Bagnolet die Theatergruppe »Atelier Théâtre et Musique«<br />

(ATEM), in <strong>der</strong> sich Musiker:innen, Schauspieler:innen und Anwohner:innen gemeinsam<br />

<strong>der</strong> Entwicklung neuer musiktheatralischer Formen widmeten. Für sein umfassendes<br />

Lebenswerk wurde Georges Aperghis 2021 mit dem Ernst von Siemens Musikpreis<br />

geehrt. Das Gespräch führte <strong>der</strong> Dramaturg ANDRI HARDMEIER im Rahmen <strong>der</strong> musikalischen<br />

Vorproben im Februar <strong>2023</strong> in München.<br />

Aus dem Französischen von Andri Hardmeier.<br />

Foto: MUTESOUVENIR | Kai Bienert<br />

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