Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2023
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Thema, das ich von unterschiedlichen Seiten zu beleuchten,<br />
über das ich verschiedene Geschichten zu<br />
erzählen versuche. Hier ist es die Mine, davor hatte<br />
ich etwas über Roboter gemacht, o<strong>der</strong> einen Abend<br />
über Überwachung und Kontrolle. Das sind alles Themen,<br />
um die ich mich dann drehe. Doch alles, was<br />
Musik, Klang o<strong>der</strong> Video betrifft, ist am Anfang unabhängig.<br />
Jedes Ding hat sein eigenes Leben. Daraus<br />
versuche ich, eine Vielstimmigkeit zu erzeugen. Es ist<br />
also etwas völlig an<strong>der</strong>es, als eine lineare Geschichte<br />
zu erzählen. Und letztlich ist es das Publikum, das<br />
zur Erzählung wird, denn es macht die Geschichten.<br />
Ich gebe nur die Elemente vor. Oft erzählen mir<br />
Leute nach einer Vorstellung, dass sie an demselben<br />
Abend ganz unterschiedliche Dinge erlebt haben.<br />
Das macht mich sehr glücklich.<br />
Sie selber haben Ihr Schaffen einmal als »faire musique<br />
de tout« (Musik aus allem machen) bezeichnet. Was verstehen<br />
Sie darunter?<br />
Das ist keine Erfindung von mir. Es ist die Idee, dass<br />
Musik auch eine visuelle Komponente hat. Das heißt,<br />
dass Gesten – wenn sie in einer musikalischen Zeit<br />
stehen – selber zu Musik werden, und dass schließlich<br />
alles, was sich innerhalb dieser Zeit befindet,<br />
zu Musik werden kann. Das ist wie im Theater, wenn<br />
man eine theatrale Zeit einrichtet. Und für mich steht<br />
das Theater immer auch in einer musikalischen Zeit,<br />
einer Zeit, in die man Ereignisse eintragen kann. Musiker:innen<br />
o<strong>der</strong> Sänger:innen o<strong>der</strong> Schauspieler:innen<br />
können für eine kurze Zeit zu einer Figur werden,<br />
auch nur für ein paar Sekunden. Und dann machen<br />
sie etwas an<strong>der</strong>es, weil die Musik ihnen das vorgibt.<br />
Es geht nicht nur darum, das Instrument zu spielen,<br />
es ist <strong>der</strong> ganze Körper, <strong>der</strong> involviert ist, die Verhaltensweisen.<br />
Sprache und Körper, Kommunikation<br />
und Interaktion bilden den Fokus. Man könnte sagen,<br />
dass es wie ein Puzzle ist, dass man unterschiedliche<br />
Momente wahrnimmt, dass zum Beispiel <strong>der</strong> Trompeter<br />
schließlich auf eine etwas verschwommene Art<br />
und Weise doch zu einer Figur geworden ist, ohne<br />
dass man genau wüsste, zu welcher. Man hat eine<br />
Idee, konkreter als gedacht, aber man kann es nicht<br />
definieren. Es ist nicht nur <strong>der</strong> schöne Klang, <strong>der</strong> die<br />
Musik ausmacht.<br />
Mit <strong>der</strong> Gleichstellung von Musik, Sprache, Gestik und<br />
Mimik öffnet sich Ihnen ein ganzes Forschungsfeld. Ihre<br />
Stücke integrieren vokale, instrumentale, narrative und<br />
szenische Elemente in einen einzigen Ausdrucksrahmen.<br />
Das Musizieren selber wird zur szenischen Aktion. Wie<br />
entwickeln Sie eine solche Produktion? Ist auch dies ein<br />
kollektiver Prozess?<br />
Meistens fange ich alleine an, um zu sehen, wohin die<br />
Reise geht. Dann habe ich gesehen, dass die Zeichnungen,<br />
die Jeanne Apergis anfertigt, sehr gut mit<br />
<strong>der</strong> Welt funktionieren könnten, die ich mir vorstellte,<br />
und eine Distanz zu einem konkreteren Theaterspiel<br />
schaffen. Ich habe ihr also davon erzählt und sie<br />
hat ein paar Versuche gemacht. Das läuft dann alles<br />
parallel. Ich habe angefangen zu schreiben und gleichzeitig<br />
mit Daniel Lévy über die Beleuchtung gesprochen<br />
und mit Nina Bonardi über die Bühne. Und so<br />
kommt alles zusammen, man trifft sich bei mir zu<br />
Hause und arbeitet gemeinsam weiter. Jérôme Truncer<br />
ist für das Video dazugekommen. Und natürlich war<br />
Jean-Christophe Bailly von Anfang an dabei. Nach und<br />
nach fügen sich dann all diese Aspekte zusammen,<br />
während ich die Musik schreibe.<br />
Mit dem WEGE-Projekt lässt sich im Rahmen <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong><br />
die Vielfalt des Ruhrgebiets erwan<strong>der</strong>n und erfahren.<br />
An <strong>der</strong> letztjährigen <strong>Ruhrtriennale</strong> hat <strong>der</strong> südamerikanische<br />
Künstler Lisandro Rodriguez den Weg<br />
zum Landschaftspark mit Fragen bepflastert über das<br />
Verhältnis von Kunst und Bergbau, über Verhältnisse von<br />
Macht und Natur. In seinem Projekt El Extranjero sah er<br />
sich als einen Fremden, <strong>der</strong> Fragen stellt, um zu verstehen.<br />
Eine dieser Fragen lautete: »Ist Kunst <strong>der</strong> neue Bergbau?«<br />
Oft denke ich, dass die tägliche Arbeit des Künstlers<br />
darin besteht, jeden Morgen in die Mine hinabzusteigen,<br />
um Material nach oben zu schaffen. Jeden<br />
Morgen nimmt man die Arbeit erneut auf, fragt sich,<br />
was passieren, was dabei herauskommen wird. Es ist<br />
natürlich nicht so hart und gefährlich wie in <strong>der</strong> Mine,<br />
sozial gesehen hat es nichts damit zu tun. Aber es ist<br />
<strong>der</strong> Grund des Schachtes, in den man hinabsteigen<br />
muss. Es ist auf jeden Fall eine Metapher für Konzentration,<br />
für den Versuch, in sich zu gehen, um Dinge zu<br />
hören. Ohne sich zu betrügen, ohne zu lügen.<br />
Der griechisch-französische Komponist GEORGES APERGHIS ist eine <strong>der</strong> prägendsten Figuren<br />
im Bereich des zeitgenössischen Musiktheaters. In den 1970er-Jahren gründete<br />
er in <strong>der</strong> Pariser Banlieue Bagnolet die Theatergruppe »Atelier Théâtre et Musique«<br />
(ATEM), in <strong>der</strong> sich Musiker:innen, Schauspieler:innen und Anwohner:innen gemeinsam<br />
<strong>der</strong> Entwicklung neuer musiktheatralischer Formen widmeten. Für sein umfassendes<br />
Lebenswerk wurde Georges Aperghis 2021 mit dem Ernst von Siemens Musikpreis<br />
geehrt. Das Gespräch führte <strong>der</strong> Dramaturg ANDRI HARDMEIER im Rahmen <strong>der</strong> musikalischen<br />
Vorproben im Februar <strong>2023</strong> in München.<br />
Aus dem Französischen von Andri Hardmeier.<br />
Foto: MUTESOUVENIR | Kai Bienert<br />
144