Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2023
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mit musik theatralem Charakter, wie es sich das Ensemble<br />
This I Ensemble That zur Eigenschaft gemacht hat,<br />
o<strong>der</strong> wie es auch in Georges Aperghis’ neuem Musiktheater<br />
Die Erdfabrik zum Einsatz kommt.<br />
WAHRE KUNST GIBT<br />
DIE MÖGLICHKEIT, DIE<br />
GEISTIGE DIMENSION<br />
ZU ÖFFNEN:<br />
DIESE MÖGLICHKEIT<br />
VERLIEREN DIE<br />
MENSCHEN, DENN SIE<br />
WOLLEN NUR NOCH<br />
LEICHTES LEBEN,<br />
LEICHTE MUSIK,<br />
LEICHTE KUNST.<br />
Wil<strong>der</strong> Ernst, großes Spiel – Michael Wertmüller,<br />
Sofia Gubaidulina, Simon Steen-An<strong>der</strong>sen<br />
Kein Instrument vereint in sich den Kern so vieler eigenständiger<br />
musikalischer Stile und Kulturen, wie es das<br />
Schlagzeug tut. So ist es auch nicht verwun<strong>der</strong>lich, dass<br />
gerade ein Komponist wie Michael Wertmüller, <strong>der</strong> als<br />
Jazzschlagzeuger wie als Orchesterperkussionist Karriere<br />
gemacht hat, die scheinbar unvereinbaren Welten von<br />
Klassik und Jazz als EINE Welt begreift und behandelt.<br />
In seinem experimentellen Opernraum D•I•E (UA <strong>Ruhrtriennale</strong><br />
2021) hatte er das mit fünf Bands und Ensembles<br />
völlig unterschiedlicher Stile unter Beweis gestellt.<br />
In seinem neuen Stück für die <strong>Ruhrtriennale</strong> lässt er nun<br />
zwei gegensätzliche Orchester – Sinfonieorchester und<br />
Bigband – zu einem großen heterogenen Klangkörper<br />
zusammenwachsen. Dass sich die beiden nicht ganz<br />
ohne Weiteres in Einklang bringen lassen und mit unterschiedlichen<br />
Rhythmen, Metren und Tempi immer wie<strong>der</strong><br />
genüsslich gegeneinan<strong>der</strong>laufen, verrät schon <strong>der</strong><br />
Titel Shlimazl.<br />
Bigband steht für Spaß und Unterhaltung. Solche Leichtfüßigkeit<br />
ist jedoch das letzte, womit man die tatarischrussische<br />
Komponistin Sofia Gubaidulina assoziieren<br />
würde. Tatsächlich sieht die 91-Jährige in <strong>der</strong> heutigen<br />
»Spaßgesellschaft« die bedenkliche Tendenz, dass jede<br />
geistige Aktivität abhandenkommt und das Leben nur<br />
noch horizontal und eindimensional verläuft. »Wahre<br />
Kunst gibt die Möglichkeit, die geistige Dimension zu öffnen:<br />
die Vertikale«, sagt sie 2002 in einem Interview mit<br />
Janica Draisma. »Diese Möglichkeit verlieren die Menschen,<br />
denn sie wollen nur noch leichtes Leben, leichte<br />
Musik, leichte Kunst. Und alles nur zum Spaß. Das ist eine<br />
sehr große Gefahr. Es ist <strong>der</strong> Weg zum Tod. Zum geistigen<br />
Tod. Aber sie bemerken es nicht.« Spaß und Leichtigkeit<br />
hält Gubaidulina dennoch für wichtig, nur sollten sie mit<br />
geistiger Aktivität und Tiefe in einer Balance stehen, da<br />
man sonst die »geistige Muskulatur« verliere, die »Verbindung<br />
zum Himmel« – o<strong>der</strong> wie sie es an an<strong>der</strong>er Stelle<br />
ausdrückt: die »Wurzeln im Himmel«. Gern verwendet sie<br />
die Metapher des Kreuzes, um diese Balance zu verdeutlichen.<br />
Auf den ersten Blick erstaunt vielleicht, dass diese<br />
hochgeistige und tiefreligiöse Frau, <strong>der</strong>en Kreativität<br />
einst aus Armut, Angst und Trostlosigkeit geboren wurde,<br />
ein frivolitätsverdächtiges Stück wie Revuemusik für Sinfonieorchester<br />
und Jazzband schreibt. Aber eben nur auf<br />
den ersten Blick. Auf den zweiten fällt auf, dass sie ihre<br />
zwei konträren Klangkörper genau in diesen Dienst stellt:<br />
ein Gleichgewicht <strong>der</strong> Kräfte herzustellen. An Expertise,<br />
für Bigband zu komponieren, fehlt es ihr dabei keineswegs,<br />
schrieb sie doch in jungen Jahren zum Broterwerb<br />
in Moskau oft Filmmusik – eine Qualität, die in dieser<br />
vollends unfrivolen, fantastisch-skurrilen Komposition<br />
immer wie<strong>der</strong> zum Tragen kommt.<br />
ÜBER DEN HUMOR<br />
UND DAS SPIEL DRINGT<br />
STEEN-ANDERSEN<br />
ZU EINER NEUEN<br />
MUSIK, EINER ART<br />
META-MUSIK VOR,<br />
DIE SICH AUS DIESEM<br />
TRÜMMERHAUFEN<br />
VON AUDIOVISUELLEM<br />
MATERIALSCHOTTER<br />
HERAUSSCHÄLT<br />
UND SICH WIE EIN<br />
KLINGENDER PHOENIX<br />
AUS DER ASCHE<br />
ERHEBT.<br />
Dass Spaß und Humor nicht mit grundsätzlicher Oberflächlichkeit<br />
gleichzusetzen sind, son<strong>der</strong>n auch ein<br />
Schlüssel zu Tiefe, Zweifel o<strong>der</strong> etwas Unbekanntem<br />
sein können, legt <strong>der</strong> dänische Komponist Simon Steen-<br />
An<strong>der</strong>sen nahe. Sein Interessensfeld ist <strong>der</strong> Aufführungsprozess<br />
von Musik, die Konzertsituation und ihre<br />
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