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Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2023

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Als Forensische Psychiaterin arbeiten Sie seit über 20<br />

Jahren mit Menschen, die schwere, teilweise grau same<br />

Straftaten begangen haben. Leoš Janáček stellt <strong>der</strong><br />

Partitur zu seiner Oper Aus einem Totenhaus den Satz<br />

»In jedem Geschöpf ein Funke Gottes« als Leitgedanken<br />

voran. Nach allem, was Sie gesehen und erlebt haben,<br />

können Sie diesen Satz – mal abgesehen von <strong>der</strong> religiösen<br />

Komponente darin – bestätigen?<br />

Diesen Satz von Janáček auf das forensisch-psychiatrische<br />

Tun und auf die Probanden anzuwenden, wäre<br />

mir zu konkret. Er ist aber von grundsätzlicher und<br />

übergeordneter Richtigkeit und gilt daher auch für<br />

jeden Menschen, den ich bisher getroffen habe. Ich<br />

mache keinen so großen Unterschied zwischen den<br />

Menschen, mit denen ich als Straftäter spreche und<br />

den Menschen, die keine Straftaten begangen haben,<br />

einschließlich meiner selbst. Denn <strong>der</strong> Unterschied<br />

zwischen Straftätern und uns Nichtstraftäterinnen ist<br />

eigentlich relativ klein und bezieht sich auf ganz wenige<br />

Bereiche. Als Menschen haben wir elementare Grundbedürfnisse,<br />

die uns allen zu eigen sind: Wir alle brauchen<br />

Schlaf, etwas zu essen und zu trinken. Wir alle<br />

kennen Erschöpfung o<strong>der</strong> Schmerz. Wir kennen Angst,<br />

und wir alle haben ein elementares Bedürfnis nach Sicherheit,<br />

Wertschätzung, Anerkennung, Geborgenheit.<br />

Insofern gibt es eine Vielzahl von Eigenschaften, die wir<br />

miteinan<strong>der</strong> teilen. Doch da unser Bewusstsein dualistisch<br />

funktioniert, erleben wir alles dualistisch. Und<br />

das, worauf Janáček mit diesem Satz anspricht, ist eine<br />

allumfassende Wirklichkeitsebene, die wir mit dem dualistisch<br />

geprägten Verstand nicht erkennen können.<br />

Sokrates soll gesagt haben »Niemand tut freiwillig Unrecht«.<br />

Entscheiden tatsächlich die Umstände, ob man<br />

»gut« o<strong>der</strong> »schlecht« wird. Entscheidet man das nicht<br />

auch selbst?<br />

In unserem sehr individualistischen Kulturkreis sind<br />

die gesamte Erziehung und Sozialisation auf ein Ich<br />

ausgerichtet, auf die Frage: Wer bin ich und wer will<br />

ich sein? Kulturen, die das Ich als Teil eines großen<br />

Ganzen verorten, erziehen an<strong>der</strong>s, weil die eigene<br />

Person einem großen Organismus dient, einer Familie,<br />

einem Clan, einem Stamm. Hier hat die Individualität<br />

eine völlig untergeordnete Bedeutung, auch im Erleben<br />

des Selbstwerts. Natürlich sind wir auch das<br />

Ergebnis unserer Prägungen, unserer Erziehung,<br />

unserer frühen Bindungserfahrungen. Trotzdem muss<br />

ich mich irgendwann kritisch fragen, ob und unter<br />

welchen Prämissen mein Handeln Sinn macht, und<br />

was das für mein Selbstbild bedeutet. Vor diesem<br />

Hintergrund treffe ich Entscheidungen. Es gibt natürlich<br />

Lebensumstände, die es extrem schwer machen,<br />

durchgängig gut zu handeln o<strong>der</strong> auf Straftaten zu verzichten.<br />

In Kriegen etwa sind Menschen Ausnahmesituationen<br />

ausgesetzt, da lernt man sich unter Umständen<br />

selbst nochmal ganz an<strong>der</strong>s kennen. Wir<br />

können gut ein edles Bild von uns haben, wenn wir<br />

auf dem Sofa sitzen und nicht in einem Schlauchboot,<br />

das zu 220 % überbelegt ist und nur dann eine<br />

Chance hat, das an<strong>der</strong>e Ufer zu erreichen, wenn es<br />

Leute gibt, die dieses Boot verlassen. Und ich weiß<br />

nicht, ob wir wirklich von uns sagen können, dass<br />

wir wissen, wie wir in einer solchen Situation handeln<br />

würden, weil wir diese extremen Anfor<strong>der</strong>ungen<br />

nicht annähernd kennen. Trotzdem muss man sagen:<br />

Man entscheidet letztlich selbst. Die Verantwortung<br />

für sich und seine Taten trägt man, auch wenn man<br />

nicht fähig ist, mit ihr umzugehen. Und es ist ein großes<br />

Privileg, in einer Gesellschaft zu leben, wo man<br />

frei ist, für sich zu entscheiden. Es gehört zur Würde<br />

eines Erwachsenen, Verantwortung tragen zu dürfen.<br />

ES GEHÖRT ZUR WÜRDE<br />

EINES ERWACHSENEN,<br />

VERANTWORTUNG<br />

TRAGEN ZU DÜRFEN.<br />

Zwischen dem inneren Wunsch, jemanden umzubringen,<br />

und <strong>der</strong> tatsächlichen Umsetzung in die Tat liegt doch<br />

nochmal eine enorme natürliche Hemmschwelle. Was<br />

befähigt einen Menschen, diese Hemmschwelle zu überschreiten?<br />

Nicht je<strong>der</strong> Mensch kann einen an<strong>der</strong>en umbringen.<br />

Es gibt immer Menschen, die aus grundsätzlichen<br />

Erwägungen o<strong>der</strong> aus ihrer eigenen metaphysischen<br />

Verortung heraus den Weg des Tötens nicht gehen<br />

werden. O<strong>der</strong> sie haben einen Emotionshaushalt,<br />

aus dem sich diese vermeintliche Notwendigkeit<br />

nicht ergibt. Sie erleben nie diese extreme Wut,<br />

Kränkung o<strong>der</strong> Rachsucht. Sie ärgern sich vielleicht,<br />

finden Dinge nicht richtig, aber das erreicht nie einen<br />

so destruktiven Punkt, dass sie ernsthaft darüber<br />

nachdenken, jemanden auszulöschen. Es gibt<br />

aber Persönlichkeiten, die so kränkbar, so eitel, so<br />

nachtragend o<strong>der</strong> in ihrer Selbstsicherheit so zerstörbar<br />

sind, dass an<strong>der</strong>e tatsächlich die Macht haben,<br />

sie innerlich zu zerstören. Der scheinbar einzige<br />

Weg besteht dann darin, diesen »Aggressor«, <strong>der</strong><br />

einem das Selbstwertgefühl zerstört hat, wie<strong>der</strong>um<br />

zu zerstören, um dann aus den Ruinen <strong>der</strong> Tat den<br />

eigenen Selbstwert wie<strong>der</strong> aufzubauen. Auch Temperamentsunterschiede<br />

spielen eine Rolle. Es gibt<br />

Menschen, die extrem cholerisch und reizbar sind,<br />

die ihre Impulse schlecht steuern können, insbeson<strong>der</strong>e<br />

ihre wütenden Impulse. Wenn Sie ein normales<br />

Maß an Impuls- und Emotionskontrolle haben,<br />

werden Sie in <strong>der</strong> Regel kein Totschlagsdelikt begehen.<br />

Dann könnte es theoretisch eher sein, dass Sie<br />

geplant, rational und kühl jemanden Töten würden.<br />

Aber das würde dann bedeuten, dass Sie töten moralisch<br />

mit Ihrem Selbstbild vereinbaren können o<strong>der</strong><br />

es sogar zu einem Bestandteil Ihres Selbstbildes<br />

geworden ist. Ich kann mich toll fühlen, wenn ich in<br />

<strong>der</strong> Lage bin, drei Leute kaltblütig zu erschießen. Ich<br />

kann mich aber genauso toll fühlen, wenn ich meinen<br />

persönlichen Wert darin sehe, jemandem kein Leid<br />

zuzufügen. Nur das eine ist die reifere Entscheidung.<br />

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