Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2023
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Als Kind habe ich im Urlaub die Milch auf dem Bauernhof<br />
geholt. Heute ist das praktisch verschwunden.<br />
Die Umgebung, in die ein Kind heute geboren wird, ist<br />
auch nicht mehr die Stadt, wie sie zur Zeit <strong>der</strong> aufstrebenden<br />
Bourgeoisie o<strong>der</strong> danach in <strong>der</strong> Industriegesellschaft<br />
entstand. Es ist eine Art Nicht-Stadt, eine<br />
relativ formlose Metropole mit einer Universalität <strong>der</strong><br />
Medien, <strong>der</strong> Mediatisierung von Waren und so weiter.<br />
Es ist etwas Erschreckendes, wo man letztendlich<br />
feststellen muss, dass die Debatte mit <strong>der</strong> Umwelt<br />
schwach ist.<br />
Sie haben lange an <strong>der</strong> École nationale supérieure de la<br />
nature et du paysage (Nationale Hochschule für Natur und<br />
Landschaft) in Blois unterrichtet.<br />
Ich habe dort sehr gerne gearbeitet. Noch dazu als<br />
Schriftsteller. Literatur könnte ich nicht unterrichten,<br />
sie ist mir zu nah. Ich würde mich ständig aufregen.<br />
Wenn ein Student mir sagt, dass er Gérard de Nerval<br />
nicht mag, werde ich verrückt. Während es dort einen<br />
Hintergrund von objektivem Wissen gab. Was macht<br />
man mit einer Industriebrache? Wie kann man verhin<strong>der</strong>n,<br />
dass <strong>der</strong> Fluss über die Ufer tritt? Und so begleiteten<br />
wir die Studierenden, selbst ich, <strong>der</strong> ich offensichtlich<br />
einen eher theoretischen Unterricht gab.<br />
Heute sehen wir, dass die Jugend wütend und verzweifelt<br />
ist. Das Gefühl <strong>der</strong> bevorstehenden Apokalypse ist<br />
verbreitet.<br />
Ich selbst bin nicht völlig verzweifelt, aber ich frage<br />
mich oft, warum.<br />
Was gibt Ihnen noch Hoffnung?<br />
Was mir Hoffnung gibt, sind die Gebiete, die Klammern<br />
des Vergessenen. Wenn ich auf dem Land spazieren<br />
gehe und einen Esel sehe. Er kommt zu mir und<br />
ich berühre seine Ohren. Es macht mich zufrieden.<br />
Ebenfalls die Nacht. Und manchmal die Menschen.<br />
Es gibt einige interessante Dinge, die man mit ihnen<br />
unternehmen kann. Ich war gerade in München zu<br />
den Proben von Georges Aperghis’ Komposition und<br />
verfolgte die Arbeit <strong>der</strong> Musiker:innen. Es ist reine Leidenschaft,<br />
Stunden um Stunden, um winzige Klänge<br />
zu perfektionieren. Alles, was eine Form von Aufmerksamkeit<br />
erfor<strong>der</strong>t, mit den Ohren, mit den Händen,<br />
mit dem Tastsinn, das macht mir Freude. Sogar ein<br />
Metzger, <strong>der</strong> Fleisch schneidet! Ich bin in dieser Hinsicht<br />
ein absoluter Rousseauist. Alle sollten zu zehn<br />
Stunden Handarbeit pro Woche verpflichtet sein. Alle!<br />
Erstaunlich, das von einem Intellektuellen zu hören.<br />
Aber ja, aber nein. Wenn ich jemanden wie Macron<br />
sehe, den französischen Präsidenten, dann ist er für<br />
mich eine Karikatur dessen, was ein Mensch sein sollte.<br />
Ich möchte ihm einen Schraubenzieher in die Hand<br />
drücken, und ich bin mir sicher, dass er kaum weiß, wie<br />
man damit umgeht. Das sind die Leute, die die Welt<br />
regieren. Sie sind erschreckend, eine Inkompetenz und<br />
Arroganz, die fast unbegreiflich ist.<br />
Als Jugendlicher arbeitete ich bei einem Tabakpflanzer.<br />
Er besaß auch Vieh. Es war ein grausames Leben. Einmal<br />
mussten wir ein Kalb zersägen, weil es im Geburtskanal stecken<br />
geblieben war. Es gab einen Nachbarn, <strong>der</strong> jede fremde<br />
Katze tötete, die sich auf seinen Hof gewagt hatte. Ich<br />
fand sie jeweils auf dem Misthaufen. Es war blutig, es gab<br />
einen gewissen Wahrheitsgehalt, aber es war nie idyllisch.<br />
Ich bin nicht sicher, ob ich über den Verlust dieser Welt<br />
traurig wäre. Sie haben ein Libretto über eine an<strong>der</strong>e untergegangene<br />
Welt geschrieben, die Welt <strong>der</strong> Kohlebergwerke.<br />
Wer in Essen, im Ruhrgebiet, eine Zeche besucht, wo<br />
die größten Maschinen standen, findet dort jetzt ein<br />
Vier-Sterne-Restaurant. Welches Recht haben wir,<br />
das zu tun? Das bedeutet nicht, dass man das Restaurant<br />
schließen und die Zeche wie<strong>der</strong> öffnen sollte.<br />
Aber die Geschwindigkeit, mit <strong>der</strong> die Menschen ihre<br />
Vergangenheit auslöschen, gefällt mir nicht.<br />
DIE GESCHWINDIGKEIT,<br />
MIT DER DIE<br />
MENSCHEN IHRE<br />
VERGANGENHEIT<br />
AUSLÖSCHEN, GEFÄLLT<br />
MIR NICHT.<br />
Sie sprechen oft von diesen verlorenen Archiven, von<br />
den ausgelöschten Erinnerungen. Warum sollten wir sie<br />
bewahren?<br />
Weil sie unsere Gesellschaft geformt haben, und darüber<br />
hinaus ist es klar, dass wir Menschen unsere<br />
Rohstoffe lokal produzieren sollten.<br />
Wir hören diese For<strong>der</strong>ungen zurzeit in vielen Debatten.<br />
Gerade in Bezug auf Russland o<strong>der</strong> China. Vielleicht ist<br />
die Globalisierung an ein Ende gekommen und die Re-<br />
Lokalisierung <strong>der</strong> Produktion eine Notwendigkeit.<br />
Davon bin ich fest überzeugt. Ein ehemaliger Student,<br />
den ich gerne besuche, ist Viehzüchter, und er tut dies<br />
unter mo<strong>der</strong>nen Bedingungen. Keine Chemie. Die Wiesen<br />
werden durch Kulturen o<strong>der</strong> Baumstreifen voneinan<strong>der</strong><br />
getrennt, die sich <strong>der</strong> Form des Geländes anpassen,<br />
um Abflüsse und Erosion zu vermeiden. Die<br />
Menge <strong>der</strong> Dinge, die transportiert werden müssen,<br />
wird begrenzt, die Ställe abgeschafft. Die Kühe schlafen<br />
im Winter im Wald und es geht ihnen gut.<br />
1 In: Le parti pris des animaux, Jean-Christophe Bailly, 2013<br />
2 »Entre le vivant et le milieu, le rapport s’établit comme un débat«, Georges Canguilhem, La Connaissance de la vie, 1965<br />
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