Der dieses Jahr verstorbene deutsche Kunsthistoriker Hans Belting hielt es für sicher, dass Bosch eine Utopie malte, eine Vision <strong>der</strong> Menschheit ohne Sündenfall und Schuld, und er damit ein Vorbote von Erasmus von Rotterdam und Thomas Morus war. Aus demselben Grund beruht Boschs Vision ihm zufolge auf Relationen und Annäherungen und nicht so sehr auf einer bestimmten visuellen Perspektive. Erkennen Sie sich in diesen ästhetischen und sozialen Fragestellungen wie<strong>der</strong>? Es ist rückblickend interessant festzustellen, dass die meisten meiner Stücke mit einem Problem, einer Panne o<strong>der</strong> einem Unfall beginnen. Das zwingt die Anwesenden zu einer Planän<strong>der</strong>ung –, zumindest könnte man das annehmen – um vor Ort mit dem zurechtzukommen, was sie vorfinden: Ja, eine Utopie umzusetzen, das Wort gefällt mir gut, und sei sie nur temporär. Meine Bühnenbil<strong>der</strong> sind Orte eines Endes und eines Anfangs, einer Art Initiation. In La Nuit des taupes schienen Maulwürfe einen unterirdischen Raum freizuräumen und zu beschützen, damit Artgenoss:innen dort ein Konzert veranstalten. Das in München entwickelte Caspar Western Friedrich zeigte ein Museum, das umstrukturiert und selbst zum Kunstwerk wird. In Farm Fatale gründeten nach dem Verschwinden <strong>der</strong> Vögel arbeitslos gewordene Vogelscheuchen einen Piratensen<strong>der</strong>, um den Vogelgesang in Erinnerung zu behalten und mit an<strong>der</strong>en in Kontakt zu treten. Später beschützten sie mysteriöse Eier. In Crash Park werden Überlebende eines Luftunglücks zu mo<strong>der</strong>nen Robinsons und erfinden die Insel ihrer Träume, so künstlich sie auch sein mag. Die Ausgangssituation meiner Stücke wird tatsächlich wie<strong>der</strong>holt durch eine Fahrzeugpanne verursacht. Sie kann auch als Landung verstanden werden, an dem Ort, wo wir uns befinden: in einem theatralen Raum. Während meiner Zeit als Leiter des Théâtre des Amandiers in Nanterre hatte ich den Philosophen Bruno Latour eingeladen, mit uns zu arbeiten. Über unsere Epoche sagte er lächelnd, dass es nicht mehr viel Diesel gäbe und dass »<strong>der</strong> Kapitän Sie lei<strong>der</strong> informieren muss, dass <strong>der</strong> geplante Ankunftsort nicht mehr existiert«. Man muss sich entscheiden, an irgendeinem Ort anzulanden und dort ins Handeln zu kommen, wo wir stehen. Sie können dies als Beschreibung einer angesichts <strong>der</strong> Klimakatastrophe besorgten Gesellschaft lesen. Meine Figuren gestalten eine Fiktion mit, eine noch zu erfindende Welt, an <strong>der</strong> sie hängen, weil diese sie miteinan<strong>der</strong> verbindet. Aber sie landen in einem szenischen Raum und entdecken unter <strong>der</strong> Oberfläche <strong>der</strong> Fiktion technische Bühnenelemente, die in einem Theater üblich sind. Letztere ermutigen sie und helfen ihnen, in ihrem Projekt, das ja genau darin besteht, eine Art Schauspiel, einen »home-made« Vergnügungspark o<strong>der</strong> ein Konzert zu organisieren. So können sie frei von <strong>der</strong> Herstellung zur Fiktion, vom Theater zur Illusion wechseln und umgekehrt. Wichtig für sie ist, wie sich alles – sei es Werkzeug, Bild, Erinnerung – positiv auf die menschliche und nicht-menschliche Gruppe auswirkt. Ihre Situation ist prekär, fiktional und theatral. Die Gruppe for<strong>der</strong>t uns auf, für die Dauer <strong>der</strong> Aufführung an die von ihr entworfene Utopie zu glauben, damit sie sich – wir uns? – zusammenschließen können. Sie zeigt gleichzeitig aber, wie diese hergestellt wird, wie sich diese Utopie zusammensetzt – in meinem Theater geschieht das durch das Spiel, durch Montage und neue Verknüpfungen. Die erahnte Utopie ist nämlich auch genau das. Eine Industriehalle im Ruhrgebiet, <strong>der</strong> Steinbruch von Boulbon in Avignon, das Amphitheater am Fuße <strong>der</strong> Akropolis in Athen, das Ufer des Genfer Sees in Vidy- Lausanne, das Centro Dramático Nacional in Madrid in <strong>der</strong> Nähe des Prado … Die Aufführungsorte ihrer Arbeiten zeichnen eine Landkarte <strong>der</strong> Kultur des europäischen Theaters. Auf welche Art ist das in Ihrer Arbeit präsent? Ich bin nicht sicher: Findet sich in <strong>der</strong> Kultur das Gedächtnis Europas, das uns für die ungewisse Zukunft wappnet? O<strong>der</strong> erinnert uns die Kultur an die Notwendigkeit eines Ankommens? Ich weiß nicht, ob die Lüste dieses Gartens unsere Vergangenheit o<strong>der</strong> unsere Zukunft sind … Wir werden sehen. Philippe Quesne PHILIPPE QUESNE geboren 1970, studierte Bildende Kunst, visuelle Gestaltung und Bühnenbild in Paris. Er gehört zu den international bekanntesten Theatermachern Frankreichs. Seine 2003 gegründete Performancegruppe Vivarium Studio besteht aus Schauspieler:innen, Bildenden Künstler:innen, Musiker:innen und Tänzer:innen. Über die Jahre entstand ein weltweit tourendes Repertoire. 2020 widmete das Pariser Centre Pompidou Philippe Quesne einen Künstlerschwerpunkt. Von 2014 bis 2020 war er Intendant des Théâtre Nanterre-Amandiers bei Paris. Dort arbeitete er regelmäßig mit dem Studiengang des Soziologen Bruno Latour zu Fragen von künstlerischer Praxis und Klimawandel zusammen. Das Interview wurde im März <strong>2023</strong> in Lausanne mit ERIC VAUTRIN, Dramaturg am Théâtre Vidy-Lausanne, geführt. Aus dem Französischen von Anna Johanssen und Maria Wünsche Foto: Christian Knoerr 183
LEBENDIGE MONUMENTE, MONOCHROME RITUALE VON MAJA ZIMMERMANN Eszter Salamon MONUMENT 0.10: THE LIVING MONUMENT Tanz ab 15. September <strong>2023</strong> Siehe S. 54 _______________ www.ruhr3.com/monument 184